Das Herz, die Zeit und der jetzt genau richtige Mensch
– Ja, eigentlich, zuerst…
Mit diesen Worten beginnt die Erzählung und so zögernd, wie Peter Kurzeck sie spricht, ist das ein wirkliches Anheben und Sich Einstimmen. Der weiche Tonfall, der kaum merkliche Nachhall versetzen uns in einen fiktiven Raum, vielleicht ein altes Café, in dem man zusammensitzt. Nach ein paar tiefen Atemzügen (Kurzecks? Oder den eigenen?) geht es dann richtig los in diesem virtuosen Rhythmus, der die Hörer zu Lauschenden macht, denen auf einmal jedes Wort wichtig ist. Von Gisela Trahms
Wie immer bei supposé wird nicht vorgelesen, sondern frei gesprochen. Kurzeck erinnert sich an den Winter 2003/04, den er wie andere Winter auch in der Provence verbrachte, in Uzès, einer alten Provinzstadt in der Nähe von Nimes. Das Ereignis, auf das er zusteuert, ist ein medizinisches, aber kaum ist die Geschichte nach hundert Minuten dort angelangt, klingt sie auch schon aus, so schwebend, wie sie begann, als sei der Dichter bloß mal eben vorbeigekommen, habe zwischen CD 1 und CD 2 einen café noir genippt („leider nicht so gut wie der italienische Espresso“) und sich dann wieder davongemacht in sein Zuhause, das sich dort befindet, wo sein Schreibtisch steht.
Er liebt die Winter im Süden, weil der Himmel klar ist, wenn der Mistral weht und man von der Garrigue aus bis zum Meer sehen kann. Oft geht er in dieser menschenleeren Wildnis spazieren („die Tiere kennen mich schon“), sitzt auf einem sonnenwarmen Stein und spürt, dass man „auch zur eigenen Freude“ auf der Welt ist, was zu spüren in Deutschland schwierig ist. Wer nun meint, es handle sich um Erbauungsliteratur, irrt: im Grunde, so Kurzeck, sind unsere Leben verpfuscht, jedes auf seine Weise und sein eigenes schon deshalb, weil er jeden einzelnen Tag „auswendig lernen muss“, um ihn aufschreiben zu können, aber während er schreibt, läuft ihm die Zeit davon, niemals wird er sie einholen. Und obwohl er allein lebt und sich die Arbeit einteilen kann, wie er will, lässt ihn die Welt, wie sie nun einmal ist, nicht los: schon morgens wacht er in dem Bewusstsein auf, dass er ja die Steuer noch nicht gemacht hat, aber doch erst den Absatz zu Ende schreiben muss, an dem er gerade arbeitet, und während er die Satzsilbenzahl schon genau weiß und nur noch die Worte sucht, denkt sein Hirn fortwährend: aber die Steuer!
Außerdem tropft Wasser durch die Badezimmerdecke und der Staub entsorgt sich auch nicht allein – kein Wunder, dass er nachts beinahe stündlich aufwacht, denn neben all diesem Kleinkram muss er ja darauf achten, dass der Welt nichts geschieht, „nachts bin ich dafür zuständig“. Dabei schliefe er gern schneller, um Zeit zum Arbeiten zu gewinnen, denn die Zeit wird nicht nur gebraucht, sie ist Kurzecks Lebensthema, und um sie nie aus dem Auge zu verlieren, kauft er vier Uhren, groß wie Bahnhofsuhren „mit vorwurfsvollem Blick“, umstellt damit seinen Schreibtisch…
… und sorgt dafür, dass sie alle verschieden gehen.
Lauter verrückte Geschichten also, und da er sie ebenso ironisch wie unschuldig erzählt, mit unfehlbarem Sinn für die Komik von Sätzen und Situationen, erregen diese Grillen kein Befremden, sondern Entzücken. Er bekennt selbst, dass er gerne „wie ein Kind“ leben und „die Welt lieber mit den Augen wahrnehmen“ möchte. Damit ihn niemand dabei stört, lernt er kein Französisch, obwohl er mehr als zwanzig Jahre in Frankreich zugebracht hat. Vierzig Wörter reichen, selbst für Behörden.
So werkelt er wie gewohnt, bis am Freitag, den 13. Februar 2004 sein Herz „wild“ wird. Zum Glück wird ihm ein Arzt geschickt, den er schon von der Treppe herab als „den jetzt genau richtigen“ Menschen erkennt. In den folgenden Wochen verbringt er viele Stunden in ärztlichen Wartezimmern mit „optimistischen Topfpflanzen“, aber auch diese Leidensgeschichte nimmt ihren natürlichen Gang wie alle Kurzecklebensdetails. Er erzählt ja, das heißt: er lebt und ist gerettet. Und dann, zu aller Erleichterung, muss er ja auch bald nach Paris… Wer Kurzeck nur ein einziges Mal ‚Boulevard Saint Germain‘ sagen hört, mit butterweichem S und original hessischen Nasalen, weiß, wie er seine Zuhörer bezaubern wird, wenn er, hoffentlich bald, auch diese Reise ins Wort bringt.
Gisela Trahms
Peter Kurzeck: Mein wildes Herz. Peter Kurzeck erzählt. Konzeption und Regie: Klaus Sander. Schnitt und Mastering: Michael Schlappa. supposé 2011. 2 Audio-CDs. 120 Minuten. 19,80 Euro. Ein CM-Gespräch zwischen Peter Kurzeck und Wend Kässens finden Sie hier.