Geschrieben am 4. November 2015 von für Bücher, Crimemag, News

Check-up: Jack Reacher

child_personalJack Reacher auf neuen Pfaden?

Nach „Personal“ (2014, vgl. dazu Alf Mayer auf CrimeMag) und der Short Story „Small Wars“ ist „Make Me“ der zwanzigste Band von Lee Child, in dem sein Anti-Held Jack Reacher für Recht und Ordnung sorgt. Zeit für einen Quick Check: Ist „Sherlock Homeless“, dieser genügsame Tramper mit Klappzahnbürste und nachhaltiger Kopfnuß-Technik, der seinen Dienst als Militärpolizist quittierte, noch zeitgemäß? Mischt Lee Child sein Spannungsrezept immer noch mit denselben ziemlich berechenbaren Zutaten an ? Wird Reacher jetzt etwa ein PC-affines Image verpasst? Was ist dran an den Kritiker-Nörgeleien über plumpen Macho-Kult, Frauenverachtung, Gewaltverherrlichung und etlichen anderen holzschnittartigen Klischees in Reacher-Thrillern? Peter Münder hat recherchiert.

Geht es um seine Reacher-Thriller, dann holt sein Schöpfer Lee Child, 61, weit aus und verweist erstmal auf Homer oder auf die Nibelungen-Sage: Denn die ersten literarischen Werke hätten sich als Adventure Stories immer schon mit dem „Survival of the quickest“ beschäftigt und mit elaborierten Spannungsbögen, die den Leser fasziniert hätten- also mit dem zentralen Leitmotiv, von dem sich auch Jack Reacher steuern lässt. Lee Child sieht sich als Experte für den Thriller-Faktor, während er im anderen Lager Literaten ausmacht, die zwar anspruchsvollere E-Literatur fabrizieren, ohne jedoch die hohe Kunst der filigranen Spannungsbogen-Konstruktion zu beherrschen.

Ein Verkaufs-Duell mit Ian McEwan

Gegenüber solchen Autoren – er nennt an erster Stelle Ian McEwan and Martin Amis – sieht er sich anscheinend in einer Underdog-Position; jedenfalls meint er, sich als Entertainer rechtfertigen zu müssen und präsentiert daher gern Verkaufserfolge als überzeugende Argumente für die Thriller-Fraktion. „Einen mitreißenden Spannungsbogen können die einfach nicht hinkriegen“, meinte er vor fünf Jahren im Interview mit dem Londoner Evening Standard. Das war an die Adresse von Ian McEwan gerichtet, dessen Wissenschafts-Krimi „Solar“ zeitgleich mit Childs „61 Hours“ erschienen war. Solche Highbrow-Schinken wie die von Amis und McEwan könnte er auch in drei Wochen zusammenhacken, behauptete Child- die würden dann aber auch nur von einigen tausend Lesern gekauft. Das Geheimnis sei eben, einen überzeugenden Thriller zu liefern, den der Leser nicht mehr aus der Hand legt – und das könnten diese Edelfedern eben nicht. Er respektiere McEwan und sein Talent zwar: „Aber die Spannungsdynamik perfekt in einen anspruchsvollen intelligenten Roman zu integrieren, das gelingt ihm nur zum Teil – ich glaube, er weiß einfach nicht genau, wie man Spannung erzeugt“.

Als im März 2010 „Solar“ und „61 Hours“ am selben Tag erschienen, ließ sich Child auf eine Art Absatz- und Verkaufs-Duell mit McEwan ein, das vom Evening Standard begleitet wurde: Für welchen Titel würden die Kassen öfter klingeln? Von „Solar“ waren innerhalb von drei Tagen beachtliche 14.176 Exemplare verkauft worden, von „61 Hours“ jedoch 26.247 – für den Fighter Lee Child, der nichts lieber mag als einen prickelnden Konkurrenzkampf, daher ein klarer Fall: Die bessere, überzeugende Thriller-Literatur produziert er – basta. Für deutsche Leser – vor allem für BILD-Leser – ein bekanntes Argument: All diese Millionen können einfach nicht irren. Überflüssig und irritierend finde ich seine Wiederbelebung des Schubladendenkens: War die Trennung von E- und U-Literatur in England nicht schon seit Jahrzehnten ad acta gelegt worden? Warum muss Lee Child immer von „uns“ Thriller-Autoren und „den anderen“ E-Autoren (E=Edelfeder?) sprechen? Vielleicht muss er immer noch seine tiefe narzistische Kränkung kompensieren, die bei ihm die Kündigung bei ITV vor 20 Jahren offenbar ausgelöst hat? Wurde daraus denn nicht längst ein fulminanter, erfolgreicher Neustart in bester American Dream-Tradition?

child make me UK9Alle zwanzig Sekunden

Die Zahlen, die Lee Childs US-Verlag im Klappentext verbreitet, dürften auch den Statistiker und Zahlenfanatiker Reacher freuen: Alle zwanzig Sekunden wird demnach irgendwo auf der Welt ein Reacher-Thriller gekauft, insgesamt wurden bisher rund 40 Millionen Exemplare der bislang zwanzig Titel verkauft und in ca. 25 Sprachen übersetzt. Da der ehemalige TV-Produzent Lee Child (Pseudonym für Jim Grant) beim britischen Sender Granada sich nach seiner Entlassung (wegen „Umstrukturierung“) frustriert in die USA absetzte und beschloss, kommerziell erfolgreiche Unterhaltungsromane zu schreiben, wird inzwischen in fast jeder Kritik, in jedem Interview das ach so beeindruckende Millionärsdasein dieses Bestseller-Autors bejubelt – Häuser in den USA, Villen an der Cote d’Azur usw. – als hätten wir es mit einem leibhaftigen russischen Oligarchen zu tun.

Aber sei’s drum: Dieser auch von Child gern erwähnte Kontrast zwischen Romanfigur und Autor ist natürlich interessant, könnte aber auch als Protestpose verstanden werden: Seht her, signalisiert der gefeuerte Brite, ihr wolltet mich fertigmachen, aber ich verwirkliche mir meinen millionenschweren American Dream und zeige einen bedürfnislosen Ex-MP ohne festen Wohnsitz, der vom Ersparten lebt, Klamotten im PX-Store kauft und sich noch im heruntergekommensten Motel wohl fühlt- und dieser ungebundene Typ ohne Kreditkarte, Auto oder Luxus-Apartment ist ein geläuterter, abgeklärter, zufriedener Mann mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn! Er führt uns also den Anti-Trump als Erfolgsmodell vor. Und das Verrückte ist nicht nur, dass Millionen von Lesern diesen Außenseiter großartig finden, sondern dass Zweidrittel aller Leser weiblich sind – das hat Child jedenfalls bei Lesungen und vielen Treffen mit Lesern herausgefunden. Ähnlich wie sein Anti-Held Reacher hat der Autor auch gleich mehrere Begründungsvarianten durchgespielt und aufgelistet: Erstens seien Frauen viel sensibler hinsichtlich begangener Ungerechtigkeiten und würden sich daher mit dem Gerechtigkeitsfanatiker Reacher identifizieren. Zweitens hätten Frauen Probleme damit, Frust, Ärger und Wut zu artikulieren – worüber sich der schlagkräftige Reacher nie den Kopf zerbricht. Drittens respektiert Reacher Frauen, auch wenn er sie gern flach legt. Und viertens würden viele Frauen Jack Reacher sexy und attraktiv finden: Er ist ein großartiger, harter, ungebundener Typ: „Ideal für die ultimative, sichere Affäre mit einem Fremden auf der Durchreise“.

child personal lt

Vom Umgang mit Schwächeren

In „Personal“ wird Reacher als Lockvogel für einen undurchsichtigen Auftrag eingesetzt: Er soll einen kaltblütigen Scharfschützen aufspüren, der in Paris ein Attentat auf den französischen Präsidenten verüben wollte. Army und CIA haben ein Szenario ausgearbeitet, in dem nur vier Killer als potentielle Täter in Frage kommen, die mit einem Gewehr über 1200 Meter genau treffen können. Vor der in London stattfindenden Gipfelkonferenz soll dieser Sniper unbedingt gefunden werden, um eine Panik im politischen Establishment zu vermeiden. Reacher wird von der jungen CIA-Agentin Casey Nice unterstützt: Sie soll mit Smartphones den Kontakt zur US-Einsatzzentrale halten – für den Hi-Tech-Muffel Reacher wäre Simsen, GPS-Überwachung und das permanente Handygequatsche ebenso obszön wie Kaviar zum Frühstück. Die kompetente, ziemlich taffe CIA-Agentin hat allerdings mehrere Probleme: Sie leidet unter Panik-Attacken und Versagensängsten, weil sie sich um ihre krebskranke Mutter kümmert und sich für alle kritischen Situationen im Dienst verantwortlich fühlt – also nimmt sie regelmäßig Beruhigungstabletten.

Man kann sich vorstellen, mit welcher Häme sich Mickey Spillane und andere Macho-Altvorderen sich über eine Pillen schluckende Kollegin im Kugelhagel mokiert hätten. Reacher dagegen verhält sich wie ein Kursleiter im Seminar für Positives Denken: Er baut sie auf und lobt sie für ihren Einsatz, weist aber auch auf die fehlende Solidarität in den eigenen Reihen der Dienste hin: Vielleicht sollte sie lieber den CIA-Dienst quittieren und bei der Army anfangen? Denn nur auf die Kameraden bei der Army sei hundertprozentig Verlass. Ein heikler Punkt, den Reacher aber immer wieder (auch in den früheren Romanen) anspricht – dabei wurde er ja selbst von seinen Vorgesetzten im Stich gelassen und vom Verwaltungs-Moloch der Army zuerst degradiert und dann entsorgt. Und die Rolle der US-Army im Irak, in Afghanistan und anderen Krisengebieten ist in diesem Kontext noch nicht mal thematisiert…

Den Vorhang teilweise aufgezogen

Immerhin deutet Lee Child in seiner Short Story „Not A Drill“ (als Bonus „extra story“ in „Personal“ enthalten) an, wie er in den nächsten Bänden mit der Aufarbeitung und Beschreibung sensibler Sicherheits- und Überwachungsfragen, mit Terrorismus-Bekämpfung usw. umgehen wird. Aus der harmlosen Natur-Idylle im kanadisch-amerikanischen Grenzgebiet wird eine hochbrisante Extremsituation, als Soldaten im Wald Sperrzonen einrichten. Die Wanderer und Umwelt-Aktivisten, die den trampenden Reacher im Auto mitgenommen hatten, spekulieren plötzlich über Geheimflüge mit gefolterten Guantanamo-Häftlingen, die aus Flugzeugen über dem Waldgebiet abgeworfen werden. Vielleicht wird hier in dieser abgelegenen Einöde nach Leichen oder gefährlicher, verstrahlter Fracht gesucht ? Die Konfrontation mit diesen unerfreulichen und erschreckenden Aspekten wäre tatsächlich eine „New Frontier“, die Reacher hier betreten würde.

Warten wir es ab, bisher hat Lee Child nur einen Teil dieses Vorhangs aufgezogen und uns nur einen kleinen Ausschnitt gezeigt. Auf simple Holzschnitt-Technik dürften sich auch die nächsten Reacher-Titel jedenfalls nicht reduzieren lassen, eher auf facettenreiche Enthüllungs-Themen, die tiefer unter der schillernden Oberfläche schürfen. „Wie beim Magier auf der Bühne“ sei die militärische Aktion im Wald durchgezogen worden, meint Reacher in der Short Story „Not a Drill“ zu einem jungen Soldaten: „Große theatralische Gesten mit der linken Hand, die aufmerksam verfolgt werden. Während die wichtige Arbeit von der Rechten besorgt wird. Es gibt Aktivisten, die sich immer über irgendwas aufregen müssen, also geben wir ihnen etwas – eine große Geste mit der Linken. Worüber man sich furchtbar aufregen kann. Und inzwischen hat die rechte Hand ungestört alles Wichtige ausgeführt – das klassische Ablenkungsmanöver aus dem Lehrbuch“. (Übersetzung. PM) Offenbar können wir Reacher also demnächst beim Ausflug in vermintes Gelände hinter den aufgehübschten Kulissen begleiten – man darf gespannt sein.

Unser Quick-Check anläßlich des zwanzigsten Reacher-Thrillers kann kein wirklich überraschendes Fazit ziehen: Klischees hat Lee Child eigentlich noch nie bedient, auch wenn er jetzt in „Personal“ etwa behauptet, die Engländer wären alle „geschickte Kartenspieler“ oder „diskrete Beobachter“. Mit Gender Studies – das wurde in Feministenzirkeln häufig moniert – hat Lee Child auch nichts am Hut – so what? Sind dafür nicht die Soziologen der Abteilung „hypersensibler Feminismus“ zuständig?

Lee Child: Personal. Bantam Books London 2014. 512 Seiten.

David Sexton: Clash of the Titans – Ian McEwan vs Lee Child. In: London Evening Standard, 31. März 2010.

PS: CrimeMag greift hier vor, Ermitteln gehört zum Geschäft. Deutsche Leser sind erst beim 17. Reacher-Roman, beim „Anhalter“, weiter sind die Übersetzungen noch nicht gediehen.

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