Dichtung und Wahrheit: Wie starb Osama bin Laden?
Umstrittener Bestseller schon vor der Veröffentlichung: „No Easy Day“, der Bericht eines Navy Seal-Kämpfers über den Einsatz gegen Osama bin Laden in Pakistan, enthält etliche Ungereimtheiten und Widersprüche. Eine restlose Aufklärung der Vorgänge in Abbottabad würde aber Jahre dauern, meint der US-Geheimdienst-Experte Robert Baer. Von Peter Münder
Schon vor seiner Veröffentlichung am 4. September befand sich der von Mark Owen (Pseudonym für Matt Bissonette) mit dem Ko-Autor Kevin Maurer verfasste Augenzeugenbericht „No Easy Day“ (Startauflage 400 000 Exemplare) auf der Amazon-Bestsellerliste und hatte bereits heftige Kontroversen ausgelöst. Denn die vom 36-jährigen ehemaligen Navy Seal-Teamführer aus Alaska beschriebene „Operation Geronimo“ im pakistanischen Abbottabad, bei der Top-Terrorist Osama bin Laden in der Nacht vom 1. Mai 2011 getötet wurde, soll sich anders abgespielt haben, als bisher vom Weißen Haus dargestellt.
Da das Buch zudem weder vom Weißen Haus noch vom Pentagon autorisiert war und nun mitten im Präsidentenwahlkampf für Furore sorgt, fragen sich politische Beobachter auch, ob konservative Militärs vielleicht Wahlkampfhilfe für die Republikaner leisten wollen, indem sie Präsident Obama als unglaubwürdig darstellen.
Nach der offiziellen Version hatte das Seal-Team den obersten Stock des festungsartig ausgebauten Hauses des bin Laden-Clans erreicht, als Osama bin Ladens Kopf plötzlich in der Tür des Schlafzimmers sichtbar wurde. Der Schuss des Seal-Anführers auf bin Laden soll den Terroristen verfehlt haben, dann sei bin Laden im Schlafzimmer mit zwei Schüssen getötet worden: Mit einem Schuss in die Brust und einem, der über dem linken Auge platziert war. Nun behauptet Owen jedoch in seinem Buch, zwei schallgedämpfte Schüsse gehört zu haben, als bin Laden sich an der obersten Treppe zeigte, dann sei man ihm gefolgt und habe ihn am Boden liegend aufgefunden: „Blut und Gehirnmasse quollen aus dem Kopf und zwei Frauen jammerten wehklagend über seinem Körper, der noch zuckte und sich bewegte“. Man habe auch zwei Waffen gefunden: ein AK47-Maschinengewehr und eine Makarov-Pistole, beide seien ungeladen gewesen.
Im letzten Jahr hatte der New Yorker noch berichtet, zwei Frauen hätten sich schützend vor bin Laden gestellt, dabei sei einer Frau ins Bein geschossen worden. Unklar bleibt auch, wer das Versteck des Terroristen-Chefs in Abbottabad verriet: War die CIA tatsächlich einem Al-Kaida- Kurier auf die Spur gekommen und hatte dessen Telefonkontakte ausspioniert? Oder waren es pakistanische Quellen, die genau über das Geheimversteck von bin Laden informiert waren? Dafür würde auch sprechen, dass der vierzig Minuten andauernde nächtliche Einsatz der beiden US-Hubschrauber normalerweise nicht unentdeckt bleiben konnte. Denn in unmittelbarer Nähe zum bin Laden-Anwesen befindet sich eine Militärakademie, außerdem gab es in der Nacht , als das „Geronimo“-Kommando im Einsatz war, einen Zwischenfall an der indischen Grenze, der zur erhöhten Alarmbereitschaft des pakistanischen Militärs führte. Darauf wies jetzt der amerikanische Geheimdienst-Experte Robert Baer in einer kritischen Anmerkungen (in einem Telefongespräch mit dem Autor) zur Operation „Geronimo“ und dem Buch „No Easy Day“ hin.
Der ehemalige CIA-Agent Robert Baer, 60, war auch für die Elite-Einheit „Delta Force“ an gefährlichen Sonderkommandos beteiligt und hat heute noch Kontakte zu Mitgliedern von Spezialeinheiten. Er war von 1976–97 in Beirut, Duschanbe, Rabat, Khartoum und Neu-Delhi im Einsatz, spricht mehrere arabische Sprachen und war als Mann der Praxis entsetzt über die Fixierung auf elektronische Hightech-Überwachung bei der CIA, die den Alltag und die Basisarbeit mit verdeckten Ermittlern in islamistischen Krisengebieten völlig aus den Augen verlor. Baer veröffentlichte 2002 die kritische Studie „Der Niedergang der CIA“ und 2003 „Sleeping with the Devil“: Ein Buch über die amerikanische Saudi-Connection und die Kungelei mit milliardenschweren Öl-Scheichs, die den Kampf gegen terroristische Gruppen und speziell gegen Osama bin Laden für sekundär hielt. „Es gibt so viele Ungereimtheiten und Widersprüche bei der Darstellung des ‚Geronimo‘-Einsatzes“, erklärt Baer, „dass wir wahrscheinlich einige Jahre brauchen, um diesen gesamten, mit großem Aufwand konstruierten Komplex von Desinformationen abzuarbeiten.“
An die offizielle Version der US-Behörden, bin Laden über einen Kurier oder eine Handyverbindung entdeckt zu haben, glaubt Baer nicht. Seiner Ansicht nach sind die Ungereimtheiten im Fall Geronimo auf die Rücksichtnahme gegenüber pakistanische Behörden zurückzuführen: „Wahrscheinlich sollen pakistanische Quellen geschützt werden, die über den Seal-Einsatz informiert waren und die US-Behörden auf bin Ladens Aufenthalt in Abbottabad überhaupt erst hingewiesen haben“, meint er. Zu den Informanten, die vom CIA für die Terroristenjagd eingespannt wurden, gehört wohl auch der pakistanische Arzt Dr. Shakil Aridi. Er führte in der Khyber-Region und in Abbotabad eine offizielle Impfaktion gegen Hepatitis B durch, für die er Blutproben sammeln und untersuchen ließ. Die CIA soll ihn rekrutiert haben, um über die Blutproben und DNS-Tests der Kinder aus dem bin Laden-Haus die Identität des mysteriösen Mannes abzuklären, der sich dort versteckt hatte. Nach dem Tod von Osama bin Laden wurde Shakil Afridi wegen „militanter Verschwörungsaktivitäten“ angeklagt und zu 33 Jahren Gefängnis verurteilt. Amerikanische Regierungsbeauftragte hatten im Januar 2012 zwar zugegeben, dass die CIA mit dem Arzt zusammenarbeitete, doch Afridi kann im Rahmen der Impfkampagne auch unfreiwillig als Handlanger der CIA eingespannt worden sein. Jetzt haben ausländische Mitarbeiter der Organisation „Save the Children“ jedenfalls große Probleme in Pakistan; kaum jemand bekommt noch ein Visum, viele werden ausgewiesen. Jedenfalls sind fast alle Fragen zum Hintergrund pakistanischer CIA-Informanten noch völlig offen.
Will der Autor von „No Easy Day“ mit dem Buch Präsident Obama politisch schaden und ihn vielleicht als unglaubwürdig hinstellen, um so dessen Wiederwahl zu verhindern?
„Das mag schon sein“, erklärt Robert Baer, „aber die meisten Mitglieder dieser Elite-Einheiten, die eher konservativ eingefärbt sind, bewegen sich völlig unbeholfen auf dem politischen Parkett und haben von politischen Implikationen keine Ahnung. Im Irak habe ich Soldaten gesehen, die einen Button mit dem Slogan trugen ‚I died for Bush‘ – das ist natürlich grotesk, aber den meisten geht es wohl um die Anerkennung für ihren gefährlichen job. Vielleicht will Mark Owen/bzw. Bissonette zusammen mit anderen Seal-Kämpfern ja nur verhindern, dass ihr erfolgreiches Ausschalten des Top-Terroristen bin Laden nun politisch instrumentalisiert wird?“
Da bereits andere Berichte über die Aktion „Geronimo“ zu Bestsellern avancierten und Drehbuchautoren in Hollywood elektrisierten, ist es sicher nicht abwegig, dem Autoren-Duo Owen/Maurer in dieser Tradition von Stofflieferanten für Hollywood zu sehen. Während Chuck Pfarrers „Seal Target Geronimo“ als fabulöses Märchenmachwerk abgetan werden kann, war Peter L. Bergens in diesem Jahr erschienenes Buch „Die Jagd auf Osama bin Laden“ eine faszinierende Studie, die sich mit den Vorbereitungen der „Geronimo“-Aktion und den politischen Konflikten im Umfeld von CIA und Weißem Haus beschäftigte. Die Terroristenjagd ist jedenfalls ein Top-Thema und hat Hochkonjunktur: Chuck Pfarrers Pulp-Fiction-Product wird nun auch zum 11. September neu aufgelegt und dürfte auch wieder auf den Bestsellerlisten landen. Obwohl Peter L. Bergen in einer „No Easy Day“-Rezension in der Washington Post warnte: „Verschwenden Sie bloß nicht Ihr Geld für Chuck Pfarrers Phantasien – der war bei den Aktionen nie dabei und hat nie mit einem Seal-Mitglied gesprochen.“
Vielleicht spielt aber auch der verletzte Stolz der harten Seal-Jungs eine Rolle bei der Veröffentlichung von „No Easy Day“? Schließlich hatte Präsident Obama ihnen nach der erfolgreichen Liquidierung des Terroristenchefs versprochen, sie alle zu einem Bier ins Weiße Haus einzuladen. Von wegen ein Mann, ein Wort: Obama hielt sein Versprechen nicht, auf den feuchtfröhlichen Abend mit dem Präsidenten warten die Seals immer noch. Da kann man sich vorstellen, dass die beinharten Kämpfer sauer sind und nun einfach mal ihre Version der Ereignisse in Abottabad auftischen wollen.
Peter Münder
Marc Owen/Kevin Maurer: No Easy Day: The Firsthand Account of the Mission That Killed Osama bin Laden. Dutton Adult. 336 Seiten. 16,95 Euro.
Robert Baer: Der Niedergang der CIA. Der Enthüllungsbericht eines CIA-Agenten. Bertelsmann München 2002. 415 Seiten.
Ders.: Sleeping with the Devil. How Washington sold our soul for Saudi crude. Crown Public. New York 2003. 226 Seiten.
Peter L. Bergen: Die Jagd auf Osama bin Laden. Eine Enthüllungsgeschichte. DVA. München 2012. 368 Seiten. 19,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
Chuck Pfarrer: Seal Target Geronimo: The Inside Story of the Mission to Kill Osama bin Laden. Macmillan Us. 225 Seiten.