Großartige Parabel gegen das Vergessen
Brodecks Bericht ist ein Buch, das gegen das Vergessen schreibt und dem es mühelos gelingt, beim Leser tiefe Erinnerungsspuren zu hinterlassen. Wie schon in seinem Erfolgsroman Die grauen Seelen siedelt Philippe Claudel das Geschehen in einer kleinen eingeschworenen Dorfgemeinschaft an. Von Karsten Herrmann
Ein grausames Drama hat sich in diesem abgelegenen Dorf an der deutsch-französischen Grenze abgespielt. In der Zeit nach einem großen Krieg mit fast schon vergessenen Verbrechen hatte sich ein Fremder, der „Andere“, in der Dorfpension eingemietet. Dieser vornehm gekleidete „Monsieur Socrates“ spricht nur mit seinem Pferd und seinem Esel, und die Menschen im Dorf rätseln, was ihn hierhin getrieben hat. Fast unmerklich, doch unaufhaltsam wird der „Andere“ zur Bedrohung und zum Objekt des Hasses: „Dieser Mann war wie ein Spiegel … er sagte nichts, man sah nur sich selbst in ihm.“
Erzählt wird dieses Geschehen von Brodeck, der einige Semester in der Stadt studiert hat und Berichte über die Flora und Fauna der dörflichen Umgebung verfasst. Doch Brodecks Bericht wird nicht nur zur Chronik dieses Geschehens, sondern auch zur Chronik seiner eigenen Geschichte und der unheilvollen Vergangenheit des Dorfes. Denn Brodeck wurde im Krieg von seinen Mitbürgern als ein „Anderer“, „Fremder“ denunziert und wie Millionen andere mit einem Zug „in ein neues Land, das Land der Unmenschlichkeit“ deportiert. Nicht ohne selbst schuldig zu werden, überlebt er in tiefster Erniedrigung als „Hund Brodeck“. Die Kraft und den unbedingten Willen zum Überleben gibt ihm seine im Dorf verbliebene Frau Emelia. Als er Jahre später tatsächlich zurückkehrt, ist auch hier Schreckliches geschehen und Emelia verstummt: „Der Mensch ist groß, aber er ist sich selbst nicht gewachsen.“
Philippe Claudels Brodecks Bericht ist ein ungeheuerlich tiefes, düsteres und eindringliches Buch mit deutlichen Bezügen zum Grauen des Nationalsozialismus und der Pogrome. Doch der 1962 in Lothringen geborene Autor vermeidet es, das Geschehen zeitlich, räumlich und begrifflich konkret zu verorten, sondern verdichtet es zu einer großartigen Parabel über das Fremde in uns und dem anderen, zu einer Parabel über Schuld und Verdrängung. Er zeigt sich als meisterhafter Stilist, der seine Prosa lakonisch vor sich hin schnurren lässt und wie Perlen auf einer Kette faszinierende Bilder und Metaphern aneinanderreiht.
Ohne in Schuldzuweisungen und hasserfüllte Anklagen zu verfallen, lotet Brodecks Bericht dabei die feinen Zwischentöne von Schuld und Verrat aus. Das erinnernde Erzählen wirkt für Brodeck als Gegengift gegen die Verzweiflung und das Vergessen und lässt schließlich sogar die Möglichkeit eines demütigen Verzeihens aufleuchten: „Ich bin nicht rachsüchtig. Irgendwie werde ich immer Hund Brodeck bleiben, ein Wesen, das lieber im Staub liegt als beißt. Und vielleicht ist das besser so.“
Karsten Herrmann
Philippe Claudel: Brodecks Bericht.
Aus dem Französischen von Christiane Seiler.
Reinbek bei Hamburg: Kindler Verlag 2009. 335 Seiten. 19,90 Euro