Geschrieben am 15. November 2007 von für Bücher, Litmag

Pierre Bayard: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Nur Lesen ist schöner

Pierre Bayard gibt eine gelehrte Anleitung zum gelehrten Nichtlesen

Erst einmal: Wer dieses Buch nicht oder nur flüchtig gelesen hat, kann absolut mitreden. Sofern er sich bereits in seinem Titel wiedererkennt. „Wie man über Bücher redet, die man nicht gelesen hat.“ Denn jedem Literaturinteressierten ist dieses Phänomen aus eigener Erfahrung bekannt. Schließlich ist die Zahl der Bücher, die man in seinem kurzen Leben wirklich lesen kann unendlich viel kleiner als das reichhaltige Angebot der Bibliotheken und Verlage. Und jeder Literaturliebhaber wünscht sich ja nichts sehnlicher, als soviel Lesestoff wie möglich zu konsumieren. Das gelingt freilich nicht, wenn man ein Werk Buchstabe für Buchstabe verschlingt. So käme man höchstens auf ein paar Tausend Titel. Und das wäre nicht nur wenig effizient, sondern auch höchst unbefriedigend.

Darum bricht einer, der es von Berufs wegen wissen muss, eine Lanze für das Nichtlesen, das vom unbekannten über das quergelesene bis hin zum vergessenen Buch reichen kann. Als Literaturprofessor und Psychoanalytiker weiß Pierre Bayard also sehr genau um das in gebildeten Kreisen streng gehütete Tabu, das er mit seinem gut 200-seitigen Essay zu brechen versucht. Schließlich möchte sich ein Bildungsbürger nicht die Blöße des Nichtwissens geben. Doch Bayard spricht nur aus, was im Literaturtrieb vermutlich gang und gäbe ist. Man täuscht sich und Andere über das wirklich geleistete Lesepensum. Man gibt vor, die „kollektive Bibliothek“, sprich den allgemein verbindlichen Kanon gelesen und jederzeit parat zu haben.

Letztlich kann man aber doch nur auf die im Laufe der Lesejahre angefüllt „innere Bibliothek“ zugreifen. Und die besteht in aller Regel nicht aus komplett memorierten Monographien, sondern aus Versatzstücken. Aus dem, was uns zufällig in Erinnerung geblieben ist. Das können genaue Zitate oder atmosphärische Momente sein, aber auch alles, was wir über das Buch je gehört, gelesen oder gesagt haben. Und so kommen unweigerlich auch Titel ins Spiel, die wir nur vom Hören Sagen kennen, aber in unserer selbst erschaffenen Bücherwelt eine wichtigere Rolle spielen können, als die wirklich gelesenen.

Denn das intellektuell Faszinierende und Verwertbare am Lesen wie Nichtlesen sind Querverbindungen, die wir zwischen verschiedenen Texten und dem individuellen Bildungshorizont herzustellen vermögen. Genau das ist auch die Methode, die Bayards zitatenreichen Essay zu Grunde liegt. Für die Untermauerung seines Plädoyers holt er sich schriftstellerische Schützenhilfe bei notorischen Nichtlesern wie Paul Valéry oder Montaigne oder aber beim literarischen Personal eines Umberto Eco, Oscar Wilde oder Robert Musil. Auf diesen und anderen literarischen Fundstücken basiert seine ganze „Theorie“ vom allgemeinen und individuellen Nutzen des Nichtlesens. Natürlich gibt er offen zu, diese Werke nur quer oder überhaupt nicht gelesen oder wie seine eigenen Abhandlungen wieder vergessen zu haben. Ihre Inhalte und Wirkung hat aber doch zumindest soweit rezipiert hat, dass er glaubt, sie zitieren oder beurteilen zu können.

Mit dieser Methode treibt er sein Plädoyer für das Nichtlesen schon fast auf die Spitze. Das Nichtlesen, so behauptet er am Ende seines Buches, sei quasi die Grundvoraussetzung schriftstellerisch und intellektuell kreativ zu sein. Wer sich zu intensiv mit dem einzelnen Text beschäftige, verliere sich im Detail und verlöre in der Literaturlandschaft schnell die Orientierung. Letztlich geht es Bayard um die Freiheit des Lesers und seiner Gedanken. Dennoch ist seine ungemein anregende Analyse kein Freibrief für die kategorische Verweigerung jeglicher Lektüre. Es ist vielmehr eine gelehrte Rechtfertigung für all jene, die bereits viel gelesen haben und vermutlich noch viel lesen werden. Aber von denen im Beruf oder in der Öffentlichkeit auch erwartet wird, mehr gelesen zu haben als nach menschlichem Ermessen eigentlich möglich ist. Insofern richtet sich sein Buch vor allem an seinesgleichen und setzt ein Mindestmaß an literarischem Wissen voraus. Denn auch im Literaturbetrieb gilt: Von Nichts kommt Nichts. Andere mit seinem Nichtwissen zu blenden, bedarf nicht nur eines ausgeprägten Selbstbewusstseins, einer raschen Auffassungsgabe und raffinierten Eloquenz, wie Bayard behauptet. Es bedarf mindestens ebenso so sehr eines nur an der Lektüre erlernbaren Umgangs mit literarischen Fiktionen und Motiven. Wenn es auch in Diskussionen über ein Buch nie mehr um das Buch selbst, sondern nur noch um unsere eigenen, daran geknüpften Erfahrungen und Gedanken geht, bleibt das Lesen die unverzichtbare Grundlage. Diese Schlussfolgerung würde wohl auch Bayard zustimmen, der mehr Bücher ganz gelesen haben dürfte, als er in seiner Polemik zugeben kann. Schließlich verbietet das die Etikette des bekennenden Nichtlesers. Zu denen darf sich dennoch jeder zählen, der viel und gerne liest. Auszugsweise oder ausführlich. Ob ich das besprochene Buch wirklich ausführlich gelesen habe, muss der geneigte Leser wohl oder übel selbst beurteilen. Dabei hilft ihm allerdings nur die dringend zu empfehlende Lektüre dieses Bändchen.

Jörg von Bilavsky

Pierre Bayard: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. Aus dem Französischen von Lis Künzli. Verlag Antje Kunstmann, München 2007, 224 Seiten. 16,90 Euro. ISBN 978-3-88897-486-1