Geschrieben am 29. Januar 2014 von für Bücher, Litmag

Pierre Michon: Die Elf

Pierre michon_elfLe Can Can als Tanz mit der Historie

– Pierre Michons merkwürdiges Buch “Die Elf”. Von Wolfram Schütte.

Wenn man einen umständlichen Redner charakterisieren will, der zwar vom Hundertsten ins Tausendste & dennoch oder lange nicht zu Potte kommt, dann resümiert man dessen fahrige Ausführungen mit dem Satz: er erzähle “von hinten durch die Brust ins Auge”. Mit diesem quasi Morgensternhaften Paradox soll gewissermaßen die unmögliche Verlaufsbahn eines Geschosses im Körper des Betreffenden beschrieben sein. Seine Rede wird dabei als Metapher zum Körper, der Erzählvorgang zum Schuss & dessen Ziel (Herz oder Hirn) als schwierig zu erreichen vorgestellt. Was für ein seltsames Idiom hat sich da doch die deutsche Umgangssprache zurechtgereimt!

Aber es träfe als Charakterisierung sehr schön die ästhetische Eigenart, mit der der französische Autor Pierre Michon seine kleine Historische Novelle “Die Elf” vor uns entstehen lässt & ausbreitet. Es wäre eine ironische (aber keineswegs abwertend gemeinte) Replik auf ein Buch, das in allerlei Formen literarischer Ironie schillert.

Ich vermute aber, dass die eigenwillige Form & Art von “Die Elf” davon geprägt ist, dass der Autor gewissermaßen im Geiste des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan geschrieben hat. Ich bin kein Kenner oder gar Liebhaber der Esoterik des ebenso berühmten wie umstrittenen Franzosen, dessen allgewaltige Semantik des (erotisch-sexuellen) “Begehrens” ein deutscher Kritiker einmal verächtlich-ironisch als “La can can” bezeichnete.

Der wilde Tanz des frenetischen Beineschwingens der Balletteusen, den Jacques Offenbach in seinen Operetten musikalisch entfacht hat, passt trotz der pejorativ gedachten Charakteristik des Lacanschen Denkens jedoch gar nicht schlecht zu dessen enigmatischer Eigenart, die ähnlich wie die adornitische Dialektik alle Fixierungen auflöst, in Schwingungen & fortlaufende Bewegung versetzt – mithin sich “von hinten durch die Brust ins Auge” bewegt…

Ich behaupte aber, dass man als deutscher Leser, der u.a. weder mit dem Lacanismus noch mit der Französischen Kulturgeschichte der Aufklärung & den Details der Französischen Revolution sowie deren literarischer Darstellung durch den französischen Historiker Jules Michelet vertraut ist, das Buch Pierre Michons nur rudimentär, wenn überhaupt “versteht“, bzw. nur versuchen kann, zu ahnen, worum es sich hierbei handelt & worauf der französische Erzähler hinaus will.

Ich habe “Die Elf” jetzt (übrigens mit großem Vergnügen & mit nicht nachlassender Spannung) schon dreimal gelesen – weil es als Kreation einer singulären literarischen Phantasie voller Überraschungen steckt & einen immer wieder gewissermaßen durch ein Labyrinth um viele Ecken herum & auch in tote Winkel schickt, aber einen doch bezaubert durch – ja man muss zu dieser metaphorischen Anleihe bei der Musik greifen – seine polyphone Erzähl- & weitreichende Assoziationsstruktur.

Warum sollte man mit einem literarischen Kunstwerk, bei dem ohnehin die Spannung durch den sogenannten “plot” nicht die Hauptrolle spielt, nicht ebenso umgehen wie mit einer mehrfachen Bildbetrachtung oder dem vielfachen Hören eines Musikstücks? Ist nicht sogar die einmalige Lektüre, die uns für die Literatur adäquat scheint, nur bei einem (oft eher trivialen) literarischen Schema angebracht – nämlich dort, wo unser Lesen die Spannung eines Ereignisbogens sucht & gefunden hat? Zumindest bei Gedichten wissen wir, dass sie eine mehrfache Lektüre verlangen.

Mein Eindruck von Pierre Michons Erzählung “Die Elf” kann also nur eine mögliche Annäherung an das von der unser Vertrauen verdienenden Eva Moldenhauer übertragene schmale Buch sein.

Kunsthistorisches Spekulationsgelände

Verwunderlich genug beginnt die Novelle mit dem Blick nicht auf Giambattista Tiepolos weltbekanntes monumentales Deckengemälde über dem Treppenaufgang in der Würzburger Residenz, sondern nur mit seinem kleineren Gemälde in deren Kaisersaal (wenngleich kurz darauf nur noch vom weltberühmten Deckengemälde die Rede ist). Dort soll eine nicht namentlich genannte Person dem Venezianer als zwanzigjähriges Modell für einen blonden Pagen gedient haben, der im Hochzeitszug Friedrich Barbarossas dessen Kaiserkrone auf einem Kissen mit goldenen Quasten trägt. Vierzig Jahre später sei die gleiche Person auf einer Skizze des Malers französischen Malers Jacques-Louis David als “alterslose Gestalt” abgebildet, während “die Bleistiftzeichnung von George Gabriel”, die man lange für sein Gesicht gehalten habe, ebenso unzutreffend sei wie ein Vivant Denon zugeschriebenes spätes Porträt.

Ohne zu sagen, um wen es sich handele, führt uns der Erzähler also schon auf den ersten drei Seiten durch ein kunsthistorisches Spekulationsgelände fiktiver & realer Maler, auf dem neben den schon Erwähnten auch noch die Namen Veroneses & Rembrandts herbeizitiert werden.

Das ist ein bewusst inszeniertes Wortgeklingel, das eine Person scheinbar ikonographisch fixieren soll, von der es im ersten Satz des Buches u.a. heißt, der ”mittelgroße unauffällige Mann” sei durch “sein fiebriges Schweigen, seine düstere Heiterkeit, sein bald arrogantes, bald hinterhältiges Gebaren im reifen Alter” aufgefallen. Diese Art der mit Paradoxen operierenden “Beschreibung”, die bewusst kein Bild, sondern eher ein Ungefähr, eine Atmosphäre beschwört, ist typisch für die nachfolgende Prosa insgesamt.

Sie übersetzt eine anscheinend essayistische Beschäftigung mit dem historischen Frankreich zwischen Ludwig XIV. & Napoleon, vor allem aber auf dem Höhepunkt der Revolution, im Jahr II des Terreur (1793/94) in ein (fiktives) Bild: das der elf Kommissare des Wohlfahrtsausschusses, dessen uns bekanntester Maximilian Robespierre war & die alle unter der Guillotine endeten. Gemalt haben soll es jener fiktive Maler, um dessen Verbildlichung durch quasi „authentische“ Zeugnisse sich der Erzähler des Buches so komisch-verzweifelt auf den ersten, oben zitierten Seiten bemüht hatte.

Der Erzähler wendet sich nach einiger Zeit plötzlich & danach immer wieder an einen „Monsieur“, den Leser des Buchs. Für ihn spielt er dann auf das Selbstverständlichste die Rolle eines Museumsführers im Louvre, der den angesprochenen Leser zu dessen „berühmtesten Gemälde“ führt & es kommentiert, das hinter dickem Panzerglas an abgelegenem Ort im Louvre zu sehen ist: es ist nicht wie de facto Lionardos „Mona Lisa“ sondern “Die Elf“ von dem Maler Francois-Élie Corentin, dem “Tiepolo des Schreckens”. Er sei in dem idyllischen Ort Combleux an der Loire bei Orléans, also in Frankreichs Mitte, in der Obhut zweier Frauen aufgewachsen: seiner unverheirateten Mutter & seiner als junges Mädchen von einem alten Hugenotten geschwängerten Großmutter.

Die Familiengeschichte des Malers, der in den Diensten des bekannten Revolutionssympathisanten Jacques-Louis David gestanden haben soll, wird von Michon wohl deshalb skizziert, um möglichst viele Signifikanten für das vorrevolutionäre Frankreich herbeizuzitieren. Aber sowohl das monumentale Gemälde “Die Elf” als auch ihr angeblicher Schöpfer Corentin ist fiktiv.

Verdichtete geistige & erzählerische Reflexion

Möglicherweise hat sich Michon zu seinem literarischen al fresco durch Davids reale Biographie & dessen unvollendetes reales Gemälde “Schwur im Ballhaus” anregen lassen. Die drei dubiosen Auftraggeber Corentins bezahlten den “Citoyen Maler“ dafür, dass er den kompletten Wohlfahrtsausschuss sowohl als eine “Versammlung von Helden” wie auch von “Heiligen, Tyrannen, Dieben oder Fürsten” male. Das Bild sollte je nach den künftigen politischen Entwicklungen, den die darauf Fixierten nehmen würden, als früher Hymnus oder als Vorahnung des Bösen missbrauchbar sein.

Indem Michon allen elf Mitgliedern des Wohlfahrtsausschusses, die als die “Königsmörder” in die Geschichte eingingen, eine künstlerische Vergangenheit als Literaten & Schauspieler nachsagte, rückt er die Dialektik von Kunst & Gewalt, Ästhetik & Politik, Rousseau & de Sade in den Mittelpunkt seiner Novelle. Hier begann, darf man vielleicht Michons vieldeutiges Gedankenspiel über die “Große Revolution” interpretieren, was als dunkler Schatten der Inhumanität seither bis zum Stalinismus die fatale Identifikation von Künstler & Politiker begleitete.

So enigmatisch & ambivalent auch diese ungemein verdichtete geistige & erzählerische Reflexion von Pierre Michon ausgeführt ist – man muss dabei an ein vielfach codiertes Virtuosenstück wie Arno Schmidts Erzählung “Caliban über Setebos” denken –, so abgründig scheint auch der Blick zu sein, den der Autor auf die französische Geschichte & deren Nachtseiten, Kollateralschäden oder Paradoxa richtet – in einem ebenso schmalen & eloquenten wie beunruhigend-geheimnisvollen Buch der Spekulationen & Mutmaßungen. Manche seiner Anspielungen – wie die auf „die Limousins“ – bleiben esoterisch, selbst wenn man annimmt, dass der aus dem „Limousin“ stammende Autor ad se ipsum verweisen wollte.

P.S. Der französische Erzähler ist ursprünglich bei uns bekannt geworden durch grandiose, sprachintensiven Porträts in seinen Erzählungen “Leben der kleinen Toten”. Das Buch liegt mittlerweile in der Bibliothek Suhrkamp vor. Dort ist – neben “Rimbaud der Sohn” & “Die Grande Beune” auch das hier angezeigte erschienen, allerdings im Großformat, wofür es keinen ersichtlichen Grund gab – außer dem, dass der Verlag dafür einen höheren Preis ansetzen konnte. Tant Pis.

Wolfram Schütte

Pierre Michon: Die Elf (Les Onze, 2009). Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2013. 120 Seiten. 17.95 Euro, eBook 15,99 Euro.

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