Verstörend brutal und ungeheuer zärtlich
Eine echte literarische Entdeckung ist der 37-jährige Brite Ray Robinson: In seinem Debütroman Lily erzählt er sinnlich, kraftvoll und avanciert die Geschichte einer außergewöhnlichen Heldin. Von Karsten Herrmann
Wie ein visueller Faustschlag setzt der Roman mit einer Seite voller Comic-Schreie im Stile von „ARRRRG“, „HARRR“ oder „MMMM“ ein. Typographisch simuliert wird damit einer jener epileptischen Anfälle, von denen Robinsons Protagonistin und Ich-Erzählerin Lily immer wieder heimgesucht wird: „Ich falle tief und ich falle oft.“
Lily lebt alleine und zurückgezogen in einem kleinen englischen Badeort, wo sie in einem Casino arbeitet. Ihr Leben ändert sich radikal, als sie vom Tod ihrer Mutter erfährt und sich die schreckliche Vergangenheit wieder aufrollt: Eine Kindheit, die ihr von der Mutter zur Hölle gemacht wurde, die Trennung von ihren beiden Brüdern und die Abschiebung in ein Heim. Wie von einem inneren Albdruck befreit, macht Lily sich nun auf die Suche nach ihren beiden Brüdern.
Im brodelnden London droht sie dabei im wahrsten wie übertragenen Sinne des Wortes unter die Räder zu kommen und muss eine ganze Reihe von Abstürzen und Tiefschlägen verkraften. Doch immer wieder rappelt sie sich auf und trotzt, angetrieben von einem brennenden Verlangen nach Leben und Liebe, ihrer Krankheit und Hilflosigkeit.
Ein Flackern, Surren, Leuchten und Zucken
Lily ist zugleich ein verstörend brutaler wie auch ein ungeheuer zärtlicher und feinfühliger Roman mit einer heroischen Heldin, die permanent zwischen Himmel und Hölle schwankt. Ray Robinson packt den Leser durch seine ungeheuer dynamische und sinnliche Erzählweise. Welt und Leben rasen bei ihm in faszinierenden und originellen Bildern dahin, es ist ein Flackern, Surren, Leuchten und Zucken, ein wahres Feuerwerk. Wie selten zuvor ein Schriftsteller leuchtet er dabei das Phänomen der Epilepsie aus und zoomt sich in die sich urplötzlich verkrampfenden Zellen, Adern und Gehirnwindungen seiner Protagonistin. Hautnah erlebt der Leser die selbst zerstörerische Wucht und Gewalt dieser Krankheit, die Lily immer wieder ins Nichts schleudert. Auf rührend komische Art versucht diese sich kleine Rettungsanker zu setzen und schreibt so eines Tages an ihre eigene Wohnzimmerwand: „Keine Sorge zu Hause. Bett. Schlaf. Bald besser. Alles Liebe. Lily. XXX.“
Karsten Herrmann
Ray Robinson: Lily (Electricity, 2007). Aus dem Englischen von Gregor Hens. Marebuch-Verlag 2008. 382 Seiten. 19,90 Euro.