Das „Mr. Hitchock, wie haben Sie das gemacht?“ der Crime Fiction
Das Buch ist beinahe LP-Cover-groß. Wir sprechen von fetter Kassette. Als ich es aufblätterte, musste ich mich setzen, so haute es mich um. So etwas hatte ich noch nicht gesehen. Über 1.300 Farbabbildungen zum Werk eines einzigen Schriftstellers, alles sorgsam und übersichtlich gestaltet, beste Farb- und Druckqualität, die Bilder vom Layout den entsprechenden Textstellen zugeordnet, die Bildtexte knackig. Alles sitzt, hat Luft und passt. Ein überlegt gestaltetes, wunderbar großzügiges Buch. Eine Augenweide. Ein Fest. Und da hatte ich noch keinen einzigen Satz gelesen. 47 Stunden Interviews. Selbst die Notausgabe ohne ein einziges Bild wäre noch sensationell. Dies ist, liebe Kolleginnen und Kollegen und liebes Publikum, mit weitem Abstand das beste Buch jemals über einen Crime-Autor. (Und das sagt jemand, der sich mit Frank Göhre auf 292 Seiten den Polizeiromanen von Ed McBain gewidmet hat.)
Mit Ross Macdonald (1915–1983) trifft es hier zwar den Richtigen, aber seitdem denke ich: SOLCH ein Buch MUSS es über jeden Crime-Autor von Belang geben! Tiefenschürfend zum Werk, Selbstauskunft vom Feinsten, die Cover aller Ausgaben, auch der internationalen – 32 alleine zum Beispiel zu „The Ivory Grin“, dem „Grinsen aus Elfenbein“ -, dazu die Plakate der Verfilmungen, Stills, Drehbuchseiten, Zeitschriftencover, Faksimiles, Manuskripte, Briefe, Notizen, Material, Fotos aus dem Familienalbum, Memorabilia, Selbstporträts – und Zitate, Zitate, Zitate.
Jerome Charyn schreibt in seinem Vorwort, dass seine Karriere als Crime-Autor ohne Ross Macdonald nicht denkbar und dass „Der Fall Galton“ seine Jungfernfahrt in die Crime-Gewässer gewesen sei. Siehe auch mein Porträt auf CrimeMag („Das Leben der Anderen“) und denn CM-Klassiker-Check „Der Blaue Hammer“ von Joachim Feldmann, Alf Mayer, Susanna Mende und Thomas Wörtche vom September 2016.
Insgesamt 61 Stunden Interview als Basis
Die Geschichte dieses irrwitzigen Buches ist seltsam genug. Es beruht auf 46 Stunden Tonbandinterview mit Ross Macdonald im Sommer des Jahres 1976, dazu weiteren 15 Stunden mit den Menschen, die ihn am besten kannten, darunter dessen Frau, die Crime-Autorin Margaret Millar. Paul Nelson, damals der prominenteste Rock-Kritiker seiner Zeit, war der Fragesteller. Er war ein Kriminalromanliebhaber und Kenner, ein großer Fan vor allem von Ross Macdonald, und einer der Ersten, der die Zusammenhänge zwischen Rock & Roll und der aufkeimenden Medienkultur der Moderne herstellte: mit dem Western, dem Noir, der Screwball Comedy, und besonders dem Detektivroman – alles Feierstunden und Tragödienstunden des Individualismus, Niederlagen erlaubt, Trauma und Desillusionierung inbegriffen. Der Zweite Weltkrieg und die Atombombe warfen ihre Schatten. In den frühen Siebzigern schon schlug Nelson dem Rolling Stone einen Artikel über Ross Macdonald vor, hatte gar ein Buch darüber im Hinterkopf. Der „Sommer of Love“ war vorbei, enttäuschte Weltverbesserer und Idealisten suchten nach Trost, und das nicht nur in der Musik. In seinem Buch-Exposé argumentierte Nelson: „Die Bücher von Macdonald haben viele junge Leser, die seine Figur des Privatdetektivs Lew Archer als eine aufrichtige, empathische und verständnisvolle Vaterfigur sehen. Ein Buch über diesen Autor wird Jüngere ganz sicher interessieren.“
Der Mann im Schatten
Der Kritiker Paul Nelson (1936–2006), der zusammen mit Bob Dylan auf dem College gewesen war, gewann das Vertrauen des Schriftstellers. Der war ein ernsthafter Mann, small talk interessierte ihn nicht. Nelson bereitete sich Stunden lang auf die Interviews vor, notierte sich Fragen. Wenn sie nicht gut genug waren, schwieg Macdonald. Veröffentlicht aber wurden die Bänder nie, auch mit Nelsons Buch wurde es nichts. Zum einen war Macdonald – Liebhaber kennen das von ihren Vorzugsgegenständen – ein wohl doch sehr großer Felsblock, um ihn rund zu schleifen, zum anderen hatten Nelson und Jann Wenner, der Gründer und Chefredakteur des legendären Musikmagazins Rolling Stone (sensationell die aktuelle Biografie „Sticky Fingers“) eine rechtlich bindende Übereinkunft unterzeichnet: Dass nämlich in keinem Stone- und in keinem Nelson-Text je Macdonalds Tochter Linda auch nur erwähnt werden dürfe.
Sie sprachen über moderne Literatur, über Jazz, andere Musik, über eine bewegende Episode mit Warren Zevon, über Philosophie, Geschichte, Kultur. Macdonald bewunderte Vladimir Nabokov, bewunderte Thomas Pynchon und Flannery O’Connor, Hammett and Fitzgerald. Sie diskutierten die Werke von Poe, Mailer, Chandler, Hemingway, Faulkner, Camus, Joyce Carol Oates. Macdonald war dabei stets darauf bedacht, den Unterschied zwischen sich und seiner Figur Lew Archer klar zu machen, oft aber nähert er sich in den Gesprächen seinen Schriftstellerkollegen wie sein Detektiv das auch machen würde: kreisförmig, simultan in verschiedenen Blickwinkeln, immer verständig, nachdrücklich aber fair. Archer war, beharrte Macdonald, „der Mann, der sieht, aber nicht gesehen wird, eine Art Schattenporträt unserer Welt“. An anderer Stelle greift er eben das wieder auf:
„ . . . there’s an enormous strength and invigorating quality in the ability of somebody like Dostoevsky and the other Poeesque writers to face the darkness and explore it, and discover that it, too, is part of the human heritage and that we can live in it. To turn your back on it, you know, you lose half of yourself. You’re like a man standing in sunlight without a shadow, which is a strange thing to be.”

A dream come true: Der Sammler als sein eigener Gestalter
Die Idee zu dem Buch entstand 2010, die 30 Kapitel waren schnell gesetzt, die erste Textfassung hatte rund 147.000 Worte, Fußnoten und Bildtexte nicht eingerechnet. Der Form- und Gestaltungsprozess zog sich hin. Gary Groth, der Verleger von Fantagraphics Books, war dabei ein Ermöglicher, kein Sparkommissar. Für einen Sammler wie Jeff Wong, der eines der größten Privatarchive über Ross Macdonald besitzt, waren es Sternstunden. Er durfte das Buch gestalten, konnte seine Schätze einbringen. Viele der Fotos im Buch sind zuvor noch nie veröffentlicht worden, so hat man Ross Macdonald und seine Freunde (etwa Kurt Vonnegut) noch nicht gesehen. Die berühmte Fotojournalisten Jill Krementz ist großflächig vertreten. Das alles zusammen macht das Buch zu einem ebenso visuellen wie intellektuellen Vergnügen. Truffauts berühmtes Filmbuch „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht“ hat jetzt seine Entsprechung im Crimebereich. Hallelujah. Und Frohe Weihnachten!
It’s All One Case: The Illustrated Ross Macdonald Archives. Interviews and Pictures. The Life of the Man Who Created Private Eye Lew Archer, by Paul Nelson and Kevin Avery with Jeff Wong, Introduction by Jerome Charyn. Fantagraphics Books, Seattle 2017. 302 pages, $44.99. Verlagsinformationen.
PS. Der Titel spielt mit den Fällen (cases) Lew Archers ebenso wie mit den Archivboxen Jeff Wongs und mit der Akte eben selbst von Ross Macdonald als Fall und als Dossier. Paul Nelson schrieb nach seinem Nachruf 1983 im Rolling Stone nie mehr wieder über Ross Macdonald. Kevin Averys Biografie von Paul Nelson hat den Titel „Everything Is an Afterthought: The Life and Writings of Paul Nelson“ und wurde ebenfalls von Jeff Wong gestaltet. Rolling Stone Gründer Jann Wenner, über den seit kurzem eine viel beachtete Biografie von Joe Hagan vorliegt (Alfred A. Knopf, 560 Seiten), steht jetzt auch im Rampenlicht von #MeToo. Autor und Verlag hatten das sicher nicht vorbedacht, als sie sich für den Titel „Sticky Fingers“ entschieden.
PPS. Neu übersetzt: Ross Macdonald: Unterwegs im Leichenwagen. Roman. Aus dem Amerikanischen von Karsten Singelmann. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2017, 418 Seiten, 16 Euro.
(12) Peter Blauner: Proving Ground
(11) Mike Ripley: Kiss Kiss Bang Bang
(10) Stephen Hunter: G-Man
(9) James Ellroys Fotoband: LAPD ’53
(8) Richard Price: The Whites
(7) Dominique Manotti: Noir
(6) Chuck Logan: Falling Angel
(5) Tod Goldberg: Gangsterland
(4) Gerald Seymour – ein Porträt
(3) Donald E. Westlake: The Getaway-Car
(2) Garry Disher: Bitter Wash Road
(1) Lee Child: Personal
Sowie:
Liebe und Terror im Goldenen Zeitalter der Flugzeugentführungen – Brendan I. Koerner: The Skies belong to Us (2013)
Kem Nunn: Chance (2013)
R. J. Ellory: A Quiet Belief in Angels (2012)
Lee Child: Jack Reacher’s Rules (2012
Charles Bowden: Murder City: Ciudad Juárez and the Global Economy’s New Killing Ground (2010)