Noch einmal deine Gedichte
Roberto Cotroneo hat es verdient, im deutschsprachigen Raum endlich die Aufmerksamkeit zu erhalten, die er in Italien als Schriftsteller wie als Kulturpublizist längst genießt. Von Carl Wilhelm Macke
Seit vielen Jahren schon läuft im italienischen Fernsehen eine beliebte Sendung mit dem Titel: „Chi l’ha visto?“ Die Zuschauer werden da in regelmäßigen Abständen gefragt, wer ihn gesehen hat ( so die Übersetzung ), der ganz plötzlich eine Familie oder einen Freundeskreis verlassen hat. Der Verschwundene wird von einem Fernsehmoderator genau in seinen körperlichen Eigenarten, seinen Vorlieben, seinen Charaktermerkmalen beschrieben. Und mit diesen Informationen im Kopf begeben sich dann die Zuschauer dieser Sendung auf die Fahndung nach dem Verschollenen. Manchmal stößt man dabei auf kriminelle Spuren, selten auf Entführungen, häufiger auf geistig verwirrte Menschen, oft auf eigensinnige Frauen wie Männer, die einfach von ihrem Recht Gebrauch machen, aus der immer gleichen alltäglichen Tretmühle einfach auszusteigen. In dem so vollkommen auf den Hund gekommenen seichten italienischen Fernsehprogramm, nicht nur der zum Berlusconi-Konzern gehörenden Sender, spürt man in dieser Sendung noch einen Rest von sozialer Realität des Landes. Etwas von diesem ‚Chi l’ha visto’ schimmert auch in dem neuen Roman von Robert Cotroneo durch, aber natürlich ist alles auch ganz anders als in der populären Fernsehserie. Bis zum Schluss des in vielen kleinen Abschnitten gegliederten und immer wieder unterbrochenen Romans bleibt da eine Spannung, mit einer unglaublichen Antwort auf die unendlich vielen Fragen aufgelöst wird.
Fußball und Poesie
Das von Cotroneo hier raffiniert entfaltete Ausgangsthema scheint klar zu sein. Eine Frau versucht sich an ihren geliebten Mann zu erinnern, der sie fast von einer Minute zur anderen verlassen hat. Aber alles ist sehr viel komplizierter, sehr viel undurchschaubarer, sehr viel verschwommener als es dieser Plot scheinbar nahelegt.
Warum verlässt dieser immer wieder von Anna mit so viel Liebe beschworene Mann einfach ohne Vorankündigung, ohne einen erkennbaren Grund seine Familie, die er geliebt hat so wie sie ihn liebte? Hat Edo sich das Leben genommen, aber in der uns durch den Autor präsentierten Biografie deutet nichts auf eine Depression oder eine berufliche Katastrophe hin. Ist er vielleicht ganz einfach vor dem alltäglichen langweiligen Trott irgendwohin in ein anderes Land, auf einen anderen Erdteil geflohen? Aber so banal und gleichförmig war das Leben des passionierten Buchhändlers überhaupt nicht, dass es Gründe für eine Flucht geben würde. Hat er sich einer im Untergrund agierenden politischen Bewegung angeschlossen? Auch das ist unwahrscheinlich, denn als sonderlich politisch wird uns dieser Edo nicht vorgestellt. Warum sollte ein Buchhändler mit großen Vorlieben für den Fußball und für die moderne Poesie einfach abrupt sein Leben ändern und mit seinen Angehörigen und Freunden radikal brechen? Obwohl uns durch die vielen kleinen Mosaikstückchen, die uns die Protagonistin Anna präsentiert, das Bild von Edo, ihrer großen Liebe, scheinbar immer genauer und lückenloser vor Augen erscheint, bleiben da viele Ungereimtheiten und Schatten. Lesen wir einen Kriminalroman, an dessen Ende dann die Auflösung aller Fragen steht? Ist es das Porträt eines Menschen, der frühzeitig sein Gedächtnis verloren hat? Und ist es ganz einfach eine wunderbare Liebesgeschichte, die auf tragische Weise ihr abruptes Ende gefunden hat?
Cotroneo lässt das alles offen sowie er ja auch den eigentlichen Protagonisten seines Romans erst auf den letzten Seiten ‚enttarnt’. Gleich dem gewagten Wendemanöver eines Segelbootes mitten auf dem Meer, gibt der Autor seiner Erzählung zum Ende hin eine vollkommen andere Perspektive. Man darf diese radikale Wendung der Geschichte nicht verraten, denn ansonsten würde man das ganze Buch vollkommen anders lesen. Und hat man das Buch dann zu Ende gelesen, beginnt man sofort mit einer erneuten Lektüre, um die „Zeichen im Sand“, wie es an einer Stelle heißt, vielleicht neu zu deuten.
Hommage an die moderne Lyrik
Das Buch lässt aber auch noch eine ganz andere Lesart zu: die den Roman tragende Story bildet nur den Rahmen für eine große Hommage des Autors an die moderne Lyrik. Der verschwundene Buchhändler Edo war zeitlebens ein Liebhaber moderner Poesie und Anna, die verzweifelt nach ihm suchende Gattin zitiert ständig Verse von Autoren wie Montale, Ungaretti, Pessoa, Cernuda oder Anna Achmatowa, um so dem geliebten Verschwundenen nahe zu sein.
„Noch einmal deine Gedichte, Edo, noch einmal Ungaretti…Kommm, laß mich noch einmal mit dir spielen, noch einmal speilen, daß ich mich in den Namen deiner Dichter irre, daß ich Namen verrücke und Verse verschiebe “.
Die Lektüre des Anmerkungsapparates ist wichtig, weil dort die vielen poetischen Andeutungen und Verweise mit Quellenangaben erschlossen werden. Im italienischen Original übrigens, fehlt dieser Apparat, so dass der Leser sich selber auf die Suche nach den Autoren der zitierten Verse begeben muss. Cotroneo verlangt von seinen Leser immer viel kulturelles Vorwissen. So wird man auch auf Werke und Autoren aufmerksam, die man vielleicht nicht kannte, von denen man aber einmal mehr als nur einen Vers lesen möchte. Unter den italienischen Autoren der mittleren Generation, also nach Malerba, Tabucchi, Maraini oder Magris ist Roberto Cotroneo vielleicht der einzige ‚Poeta ductus’, der in seine literarischen Arbeiten immer auch ein breites kulturelles Wissen aufscheinen lässt. So wie er einen Roman ganz um ein Beethoven-Quartett herum spielen lässt, so sind es hier seine großen poetischen Meister, denen er ein literarisches Denkmal setzt.
Roberto Cotroneo hat es verdient, im deutschsprachigen Raum endlich die Aufmerksamkeit zu erhalten, die er in Italien als Schriftsteller wie als Kulturpublizist längst genießt.
Carl Wilhelm Macke
Roberto Cotroneo: Diese Liebe (Questo amore, 2008). Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2008. 158 Seiten. 17,90 Euro.