Bewusstseinserweiternde Literatur
— Clemens J. Setz, der permanent zwischen den Genres Roman, Gedicht und Erzählung pendelt, ist einer der faszinierendsten und irrwitzigsten deutschsprachigen Schriftsteller. Jetzt ist sein fulminantes Mammutwerk „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ erschienen. Von Karsten Herrmann
Der Ausnahme-Autor Setz ist ein manischer Wortkünstler, der Kritiker wie Leser ebenso begeistert wie verwirrt. Neben den regelmäßigen Nominierungen seiner Romane für den Deutschen Buchpreis wurde der Grazer in diesen Tagen für „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ mit dem hochdotierten Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet – zu Recht, denn er bietet bewusstseinserweiternde Literatur auf hohem Niveau.
In seinem neuen 1000-Seiten-Werk entführt Clemen J. Setz den Leser in einen exzentrischen Kosmos voller Grenzgänger zwischen Wahn und Wirklichkeit. Im Mittelpunkt steht die junge Natalie, die nach einer Ausbildung in Sonderpädagogik in einem Heim für geistig und körperlich behinderte Menschen arbeitet. Sie, die in der Kindheit durch epileptische Grand Mal-Anfälle immer wieder vom Tod gestreift wurde, zeichnet sich durch eine ganz eigenwillige Selbst- und Weltwahrnehmung aus – Wörter wie „Molch“ bieten so beispielsweise für sie ein Feuerwerk synästhetischer Qualitäten. Sie streunt des Nachts durch die Gegend, offeriert fremden Männern sexuelle Handlungen und dokumentiert sie akustisch mit ihrem I-Phone. Zusammen mit Gesprächspassagen und Essgeräuschen schneidet sie daraus „Non-sequitur“-Podcasts, die sie ebenso beruhigen wie Live-Sendungen im Fernsehen.
In ihrem Heim wird Natalie zur Bezugsbetreuerin von Alexander Dorm, einer „insgesamt eher zusammenhanglos wirkenden Erscheinung“, der im Rollstuhl sitzt und viel bastelt und Listen und Briefe schreibt. Dorm bekommt regelmäßigen Besuch von Dr. Christopher Hollberg, den er jahrelang stalkte und dessen Frau er in den Selbstmord trieb. Wie Natalie bald bemerkt, spielt Hollberg ein perfides und sadistisches Spiel mit dem ihm weiterhin anhimmelnden Dorm. Als sie in dieses von allen anderen stillschweigend akzeptierte und seit Jahren laufende „Arrangement“ eingreift, entsteht ein ab- und untergründiges Duell, in dessen eskalierenden Verlauf Natalie komplett den Verstand zu verlieren droht.
Mit den subtilen Mitteln eines Psychothrillers führt Clemens J. Setz den Leser in seinem Roman tief in die Abgründe von Ohnmacht, Macht und Manipulation. Mit exzessiver und exklusiver Wort- und Bildgewalt schafft er eine Welt nach ganz eigenen Ordnungsprinzipien, in dem die Grenzen zwischen Wahnsinn und Norm, zwischen Fantastik und Realität ineinander fließen und ganz neue Konstellationen eingehen. Das – im wahrsten Sinne des Wortes – Ver-rückte, das Ex-zentrische wird bei Setz en passant zum ganz Normalen und Selbstverständlichen. Und so wächst auch seine schräge, Orientierung suchende Protagonistin dem Leser trotz ihrer Schwächen und obszönen Marotten zunehmend an das Herz.
Bei der Lektüre des erst 33jährigen Setz erweitert sich die in Alltag und auch Literatur allzu oft auf ein schmales Spektrum eingegrenzte Wahrnehmung der Welt auf geradezu ungeheuerliche Weise. Mit seiner geschliffenen und kraftvollen Prosa erzeugt er so einen Lese-Sog, der in diesem 1000-Seiten Werk auch über manche verschlungene Abschweifungen und Abwege ins neblige Nichts locker hinweg trägt.
Karsten Herrmann
Clemens J. Setz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Roman. Suhrkamp 2015. 1010 Seiten. 29,95 Euro.