Stalin
s Kopf
von Elfriede Müller
Es gibt unterschiedliche Formen, den Stalinismus aufzuarbeiten. Die Literatur ist eine davon. Unter dem Vorwand der Stalinismuskritik werden häufig Kommunismus, Sozialismus, Anarchismus, linke Utopien und Ideenwelten gleich mit entsorgt und das Ende der Geschichte verkündet, wie z. B. beim deutschen Erfolgsautor Eugen Ruge. Dies trifft auf Trojanow nicht zu. Auch beschreibt er zum Glück nicht seine eigene Familie, sondern den Werdegang zweier sich gegenüber stehender Männer, deren Gegnerschaft sich im Postrealsozialismus fortsetzt. Erstaunlich finde ich es, dass ein Postgulagroman 2015 erscheint. Das literarische Meisterwerk von Vassili Grossman Leben und Schicksal hat vor Solschenizyn das Thema des Gulags so eindringlich behandelt, dass es seine Leser nicht mehr vergessen werden. Vladimir Zarev hat in einem ähnlichen Plot in seinem in den Neunzigerjahren geschriebenen Roman Zerfall die bulgarische Talfahrt in den Neoliberalismus geschildert. Auch in Zerfall stehen sich ein ehemaliger Geheimdienstler – der nach der Wende zum Oligarchen aufsteigt – und ein im realsozialistischen Bulgarien recht geachteter Schriftsteller gegenüber, der nun zu Armut und Erfolglosigkeit verdammt ist. Beiden ergeht es am Ende so schlecht wie ihrem Land.
Bei Trojanow geht es vielleicht gar nicht unbedingt um das konkrete Bulgarien zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, sondern um eine grundsätzliche Kritik autoritärer Regime und ihres inkonsequenten Sturzes. Auf der Grundlage von Gesprächen mit Zeitzeugen und dem Studium von Dokumenten der bulgarischen Staatssicherheit zu Zeiten des Realsozialismus, erzählt er die Geschichte von zwei Männern, die im Gegensatz zu Zarevs Roman nie Freunde waren und es nie werden konnten: Konstantin, einem bis zuletzt aufrechten Anarchisten und Metodi, einem miesen Schergen der Staatssicherheit, der – wie könnte es anders sein – zum erfolgreichen Kapitalisten aufsteigt. Es ist auch ein Roman über Freundschaft, Verrat und den herrschenden Konformismus.
Der Roman zerfällt in verschiedene Genres, in eine Chronologie, die verschiedene Jahre kurz erzählt, angefangen bei 1999, zurück nach 1944, 1949, 1950, 1952-1959, 1970-71, 1989 und 1990, in die Ich-Erzählungen der beiden Protagonisten und die realen Dokumente der Staatssicherheit. Im Verlauf der Handlungen wird deutlich, dass im Realsozialismus die Zeit, d. h. die Wartezeit, schwer auf den Menschen lastete, nun sind es die hohen Preise für das Leben, die auf den Menschen lasten. Beide Männer zweifeln nicht an sich, nicht an ihren Weltanschauungen – am Anarchismus der eine und am Autoritarismus der andere – und an ihren Werdegängen, egal wie die Geschichte auch verlaufen mag, auch das macht den universellen Aspekt dieses Romans aus. Beiden ist die Macht über die Vergangenheit geläufig, genau wie die Ohnmacht und diesen Kampf führen sie bis auf den letzten Atemzug fort. Konstantin verbrachte 20 Jahre im Lager und Gefängnis und empfand niemals Reue, sich nicht angepasst zu haben: „Das Ergebnis aufrechter Haltung ist nicht messbar.“
Die Geschichte der bei Metodi plötzlich auftauchenden Tochter, die nachweisen will, dass er ihre Mutter schwängerte, als diese Lagerinsassin war, ist nicht glaubwürdig und stringent erzählt und auch nicht nötig um zu verstehen, welch schlechter Mensch dieser doch ist. Sein Alltag als Geheimdienstler hätte dafür völlig ausgereicht. Der aufrechte Gang Konstantins wird durch die zärtliche Annährung an die Nachbarin Dora noch deutlicher. Die fragmentierte Handlung, unterstrichen durch die unterschiedlichen Stile, erlangt allein durch den unendlichen Kampf von Konstantin und Metodi um die Vergangenheit Stringenz. Beider Beharrlichkeit mutet fast unheimlich an, ist aber auch für beide die einzige Möglichkeit zu ertragen, dass nicht alles umsonst war. Im Laufe des Romans stößt Konstantin beim Studieren seiner zweitausend Seiten langen Akte, die er nur sehr zögerlich ausgehändigt bekommt, auf den Verrat vieler, die er für Freunde hielt. Verrat nicht aus Böswilligkeit, sondern aus Schwäche oder Angst. Denn, „sie hatten gelernt, sich selbst zu überwachen“.
Wie Robert Litell in einem seiner frühen Werke The October Circle, der auch in Bulgarien spielt, in dem die Akteure – Anhänger des Prager Frühlings – von einem bulgarischen Frühling in den Sechzigerjahren träumten, so träumte auch Konstantin von einem möglichen Aufstand in den Fünfzigerjahren, der den wahren Kommunismus anstrebt. Stalins Tod rettet nicht nur Konstantin vor der Todesstrafe, sondern sehr, sehr viele politische Gefangene in ganz Osteuropa. Einer der Anklagepunkte gegen Konstantin lautet, dass er mit anderen eine Sprengung der Stalinstatue in Sofia geplant hätte. Das Lagerleben entspricht im Bewusstsein Konstantins der „Welt außerhalb des Lagers“. Wie schnell sich auch dort Kräfteverhältnisse ändern können, zeigte das Verhalten der Wächter im Laufe des Ungarischen Aufstands 1956, als noch nicht erwiesen war, wer gewinnen wird.
Das heutige Bulgarien stellt für Konstantin keine akzeptable Alternative zum autoritären Realsozialismus dar, so sehr die Rezensenten von der Welt, der FAZ und der Süddeutschen Zeitung diesen Roman auch als Fortsetzung des Kalten Kriegs lesen, der ja nach wie vor bei jeder Gelegenheit mobilisierbar bleibt. Allein die Schilderung des Gesundheitswesens und die Rückkehr des Zaren lehren einem das Grauen. Darüber hinaus sind dieselben scheinbar gewandelten Schergen diejenigen, die weiter Macht ausüben und die Aufarbeitung der Vergangenheit verhindern. An der Lektüre und den Statements von Konstantin macht Trojanow deutlich, dass er sich nicht nur in der Geschichte der häretischen Arbeiterbewegung auskennt, sondern auch, dass er keinen Roman vom Ende der Geschichte geschrieben hat.
Entgegen der aktuellen Wahrnehmungen von Geschichte, in der allein die Opfer im Mittelpunkt stehen, verweist Trojanow auf die Akteure von beiden Seiten und macht deutlich, dass politische Überzeugungen zwar vor Unheil nicht schützen, aber Individuen stärken, dieses zu ertragen, weil sie zumindest verstehen, warum sie erdulden, was ihnen widerfährt.
Elfriede Müller
Ilija Trojanow: Macht und Widerstand. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2015. 480 Seiten. 24,99 Euro. eBook 21,99 Euro.