Die neurotischen Schuldkomplexe hypersensibler Solipsisten
— Mit der verbissenen Ausdauer eines Marathonläufers hechelt Jonathan Franzen seiner Vision der „Great American Novel“ hinterher: Nach „Korrekturen“, und „Freiheit“ soll nun der 800 Seiten starke, zwischen Oakland, Denver, Berlin und Bolivien spielende Roman „Unschuld“ seine Variante eines opus magnum mirabile verwirklichen. Von Peter Münder
Im „Kraus-Projekt“ (2014, zur CM-Rezension) verwies Jonathan Franzen, 55, in mehreren Anmerkungen auf seine Berliner Studienzeit an der FU 1982/83, die ihn stark geprägt und auch neurotisiert hatte: Der junge amerikanische Germanist wurde nämlich während der reaktionären Reagan-Epoche von anderen Studenten geschnitten, seine Freundin war in den USA geblieben und er hatte gerade beschlossen, Schriftsteller zu werden, was er gegenüber den Eltern verheimlicht hatte. Das bescherte ihm massive Schuldgefühle, weil die ahnungslosen Eltern ihm noch sein Studium finanzierten – schließlich sollte ihr Sohn ja mal einen „seriösen“ Beruf ausüben können. Er fing während dieser extrem vereinsamten Außenseiter- und Underdog-Periode jedenfalls an, sich stark für Freud und Karl Kraus zu interessieren, schrieb ein Referat über Kraus und „Die letzten Tage der Menschheit“ und vertiefte sich in die Kontroversen um die Psychoanalyse – vielleicht hatte der Wiener Polemiker ja tatsächlich recht mit seinem höhnischen Verdikt „Die Psychoanalyse ist genau die Krankheit, die sie vorgibt, zu therapieren“ ? Auch seine problematische sexualpsychologische Phase wollte er damals in Berlin in den Griff bekommen.
In der eher tragikomischen Familienidylle der „Korrekturen“ spielten düstere Schuldgefühle der drei egoistischen, bzw. unfähigen Kinder des dement gewordenen Vaters Alfred Lambert – der übrigens genau wie Franzens Vater Eisenbahn-Ingenieur gewesen war – auch schon eine Rolle, doch in „Purity“ (merkwürdigerweise als „Unschuld“ statt mit „Reinheit“ übersetzt) sind Schuldgefühle neben der Suche nach der eigenen Identität zum zentralen Leitmotiv geworden.
Offenbar hat Franzen seit seiner Berliner Zeit sich auch gründlich mit Kafka beschäftigt und die introspektive Nabelschau, das Hineinhorchen ins ungestüme Es, das vom kontrollbesessenen Über-Ich in seine Schranken gewiesen wird und massive Schuldgefühle generiert, intensiv gepflegt. Streckenweise erinnern Passagen aus der neuen BIG NOVEL „Purity“ – „big is beautiful“ scheint das beglückende Buchhändler-Motto der Stunde zu sein – an Kafkas Parabel „Der Bau“: da baut sich der paranoide Dachs fleißig immer kompliziertere, raffinierte Fluchtwege, die seine Feinde in die Irre leiten sollen. Doch als er nach Vollendung dieses superben Gängesystems ein bedrohliches Pfeifen hört, muss er feststellen, dass es nicht von tückischen aggressiven Feinden stammt, sondern von ihm selbst. Es ist eben nicht so einfach, die Grenzen zwischen Innenwelt und Außenwelt zu erkennen und demensprechende Entscheidungen zu treffen.
Franzens Hauptfigur Purity Tyler, genannt Pip (Dickens lässt grüßen – auch die amerikanische Pip darf, wie der kleine englische Pip, der einem Strafgefangenen zur Flucht verhilft, auf die Verwirklichung von „Great Expectations“ hoffen); sie jobbt nach ihrem Studium in Oakland im Callcenter einer obskuren Öko-Investment-Firma. Sie hat Probleme mit der Rückzahlung ihres Studenten-Darlehens (140 000 Dollar) und ist ziemlich ratlos, wenn es um den richtigen Umgang mit ihrer depressiven Mutter geht, die als eine Art buddhistische Eremitin in einer kargen Holzhütte lebt und mit der Außenwelt nichts zu tun haben will. Bei den Mutter-Tochter-Telefonaten dreht sich alles um die heikle Gesundheit der hypochondrischen Mutter („mein linkes Augenlid hängt“), um vegane Kuchen und die unberechenbare Mundchemie: Wird die etwa noch durch Zuckergenuß verschlimmert? Die empfindsame Mutter geht auf keine der von Pip vorgebrachten Argumente ein – die ausführlich beschriebenen Dialoge werden trocken mit dem Resümee kommentiert: „Kein Telefonat war komplett, bevor sie einander nicht unglücklich gemacht hatten“. Ihr Geheimnis, das Pip existentiell viel stärker tangiert, gibt die Mutter nicht preis – nämlich die Identität von Pips Vater. Für Pip ist die Suche nach diesem Vater zum zentralen Lebensinhalt geworden.
Der Lustgewinn besteht für mehrere Romanfiguren aus der Beschäftigung mit sich selbst: Das verbindet Franzens Roman zwar mit Philip Roth und dessen Meister-Masturbierer Portnoy (in „Portnoys Complaint“), doch die Great American Novel, an der Roth ja auch lange und intensiv herumlaborierte, kam auch dabei nicht zustande.
The Quest: Wer ist der Vater? Wer bin ich?
Eigentlich sind alle zwischen Kalifornien, Bolivien und Berlin angesiedelten Figuren Suchende. Aber ihre Quest bleibt zu oft fixiert auf die inneren Befindlichkeiten, auf ihre eigene Vergangenheit, auf den beinah autistischen Umgang mit ihren Schuldgefühlen. Im solipsistischen grüblerischen System der Franzen-Figuren wird häufig so lange und so intensiv über sich und eigene Befindlichkeiten diskutiert, analysiert und reflektiert, bis eine Aktion überflüssig erscheint oder aufgrund eines resultierenden Lähmungszustands nicht mehr realisierbar ist. Diese Wirkung verstärkt Franzen noch mit hübsch dekorierten Redundanz-Schleifchen: Ereignisse, Zustände, Eindrücke werden aus unterschiedlichen Perspektiven wiedergegeben; sie liefern aber nur einen minimalen Erkenntnisgewinn. Immerhin mokiert sich der auf schrille Vögel kaprizierte Hobby-Ornithologe auch streckenwerte mit sublimer Ironie über Macken und Spleens seiner Figuren. Sein Faible für das Federvieh – im Roman wird auch dem majestätischen Braunrücken-Grundammer-Pärchen ein Denkmal gesetzt – führte auch zu einem empörten Internet-Shitstorm in der Öko-Gemeinde, als Franzen in einem Aufsatz für den „New Yorker behauptete, nicht der Klimawandel sei die größte Bedrohung für die Vogelwelt, sondern die Jäger und Glas-Fassaden. Die wüste Polemik, die ihm daraufhin aus allen Social Media entgegenschlug, hatte ihn empört und in der Meinung bestätigt, dass Internet und Online-Medien von einem plumpen Totalitarismus geprägt seien und die moderne Variante der Stasi-Überwachungsmethoden darstellten, denen man sich kaum noch entziehen könnte. Franzen verweist auch auf die Schere im Kopf, die über Facebook, Twitter etc. aktiviert werde: Kaum jemand würde es noch riskieren, öffentlich kritisiert zu werden, wenn er sich von den akzeptierten Mainstream-Banalitäten distanziert. Die massiven Schuldgefühle, unter denen seine Figuren leiden, sind laut Franzen als Resultat dieser Brainwashing-Prozedur zu verstehen, die auf totalen Konformismus abzielt: wer aus der Verdummungsmaschinerie aussteigen will, bekommt ein schlechtes Gewissen (siehe diesen ARD-Bericht zum Vergleich von DDR und Internet).
Der Whistleblower als eitler Selbstdarsteller
So kam er auf die Figur des in der DDR in privilegierten Verhältnissen aufgewachsenen Andreas Wolf, der es zur Wendezeit zum gewieften Medienexperten und Systemkritiker bringt. Der seine Mutter, eine Anglistin mit einem nymphomanischen Touch, hasst, im Keller einer Ost-Berliner Kirche Dissidenten unterstützt und sich dabei vor allem auf die hübschesten Mädchen kapriziert, die er reihenweise flachlegt. Andreas verliebt sich in Annagret, die von ihrem Stiefvater (einem Stasi-Spitzel) missbraucht wird und hilft ihr, diesen Mann umzubringen. Er wird aufgrund seiner öffentlichen Medien-Auftritte zu einer prominenten Figur und entwickelt sich zu einem Whistleblower, der irgendwo zwischen Snowden und Assange angesiedelt ist. Ihm geht es aber weniger um echte Aufklärung, sondern vor allem um die verklärende Selbstdarstellung und Selbstverherrlichung. Er gründet die Internet-Firma Sunlight Project und setzt sich nach Bolivien ab, wo er wie ein Sekten-Guru von jungen Frauen umschwärmt wird, unter denen dann auch Pip ist: Sie erhofft sich vom Internet-Meister konkrete Informationen über die Identität ihres Vaters, findet Andreas nach anfänglicher Skepsis doch ganz faszinierend und wird von ihm über sein dunkles Geheimnis – den Mord an Annagrets Stiefvater – aufgeklärt.
Der Sunlight Project-Guru Andreas outet sich auch als Zyniker, der das Internet genauso hasst „wie ich mein Vaterland gehasst habe – es geht jetzt nur noch um mich“, erklärt er Pip. Diese Offenbarung wirkt jedoch allzu aufgesetzt und im Kontext der Handlung, zu der noch seine Suche nach Kapital bei einem windigen Investor und seine Angst vor Erpressungsversuchen gehört, nicht plausibel. Ganz abgesehen von der melodramatischen Love Story mit verkorksten Sex-Szenen, von denen es in „Unschuld“ viel zu viele gibt. Die sind zum Teil wohl als satirische Einsprengsel gedacht, werden jedoch so detailliert und drastisch ausgemalt, dass die vielleicht beabsichtigte Kritik an harmlos-hedonistischen Egozentrikern verpufft. Franzen fällt es offenbar schwer, in kurzen Sequenzen brisante Szenen anzureißen und zum nächsten Motiv zu wechseln. Er walzt Aktionen, die wohl „shocking“ wirken sollen, in diesem 830 Seiten starken Roman so breit aus, dass sie ermüdend wirken. Über viele Seiten führt Franzen uns etwa den jungen Zwangs-Onanierer Andreas vor, der vom Vater zu einer Therapie verdonnert wird und den sympathisch wirkenden Therapeuten mit seinen intelligenten Antworten beeindrucken will. Doch der Mix aus halbironisch gemeinter Selbstdarstellung im „Portnoy“-Stil und einer kritischen Analyse psychischer Probleme des jungen Außenseiters in der „Republik des schlechten Geschmacks“ funktioniert einfach nicht.
Das ist wohl das große Manko des Romans: Franzen versteht sich als ironisch-kritischer Erzähler, der einer verträumt-introvertierten, zum Narzismus neigenden unpolitischen jungen Generation den Spiegel vorhalten und sie irgendwie wachrütteln und warnen will. Doch seine drastischen, misanthropischen Impressionen wirken oft zu plakativ-lehrstückhaft und ermüdend. Und man merkt seiner Erzähltechnik auch an, dass extrem irritierende Vorgänge, die er kritisch-sarkastisch darstellen will, eine besondere Faszination für den Autor haben.
Wir wollen aber nicht unterschlagen, dass „Unschuld“ auch beglückende und anrührende Szenen enthält, die Franzens Negativismus und die dominierende Düsternis einer an Dante orientierten Vorhölle abfedern. Sie konzentrieren sich aber nur auf die märchenhaft wirkende, einzige positiv besetzte Figur Purity. Aus der verkorksten Begegnung mit Jason, den Pip am Anfang des Romans im Coffee Shop beim Zeitunglesen traf, ist am Schluß eine ins leicht Kitschige driftende Love Story geworden – beide dreschen beim Tennis einfach nur hochkonzentriert auf die Bälle ein: Hier wird einmal nicht räsoniert, argumentiert oder reflektiert. Und doch ein Zustand der Zufriedenheit und des Ganz-bei-sich-Seins erreicht- pures Glück also:
„Pip war so richtig in Fahrt mit ihrer Vorhand, Jason flitzte herum und erzielte seine niedrigste Fehlerquote überhaupt, und obwohl ihr Ellbogen wehtat, wollte sie nie mehr aufhören. Sie hatten unwahrscheinlich lange Ballwechsel, hin und her, Wopp und Wopp, Ballwechsel, die so lang waren, dass sie am Ende vor Glück kicherte. Der Ball sprang in einem flachen Bogen auf sie zu, ihr Blick war daran geheftet, damit sie ihn auch wirklich sah, nur ihn sah, nichts dachte, und ihr Körper erledigte das Übrige, ohne dazu aufgefordert werden zu müssen… Zum ersten Mal seit ihren Anfangstagen in Volcanes erlebte sie vollkommene Zufriedenheit. Ja, eine Art Seligkeit: lange Ballwechsel an einem Herbstabend, die Ausübung von Können in einem Licht, in dem gerade noch so gespielt werden konnte, das verläßliche Tock des Tennisballes. Das genügte“.
Peter Münder
Jonathan Franzen: Unschuld (Purity, 2015). Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld. Rowohlt 2015. 832 Seiten. 26,95 Euro.
Vgl. dazu: Diane Johnson: What do these People want? In. New York review of Books, 22. Okt. 2015, S.24-28
Michiko Kakutani: „Purity“, Jonathan Franzen´s most intimate novel yet. In: International New York Times, 24. Aug. 2015