Geschrieben am 15. März 2016 von für Bücher, Crimemag

Roman: Lotte Bromberg: Auslaufgebiet

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von Alexander Roth

Blutige Fressattacke: Der Wolf ist zurück und er hat Hunger!“ – so lautet die Überschrift eines Online-Artikels der Berliner Zeitung vom 30. März letzten Jahres (Achtung, drastische Bilder!). Die Reaktionen auf solch eine Meldung dürften, damals wie heute, gespalten ausfallen. Einerseits die Faszination, die dieses wilde Tier auf die urbane Gesellschaft ausübt, andererseits die tief in uns verwurzelte Angst vor dem, was seine spitzen Zähne alles anrichten können. In etwa so verhält es sich auch mit den zwei vorliegenden Werken: Beide sind von einer Wildheit, die das jeweilige Medium nur schwer zu bändigen vermag. Beide üben auf ihre jeweils eigene Art eine starke Anziehungskraft aus. Doch wirklich genießen können die nachfolgenden Titel nur jene, die nicht beim ersten Zähneblecken gleich die Flucht ergreifen – oder anders ausgedrückt: Wir haben es hier im wahrsten Sinne des Wortes mit rohem Material zu tun.

Eine Autorin markiert ihr Revier

Es erwartet Sie nicht weniger als der vielleicht beste, auf jeden Fall aber ungewöhnlichste Romananfang, den Sie seit langer Zeit gelesen haben (außer, Sie haben kürzlich auf die Empfehlung der Kollegen hin in Miami Blues geblättert). In einem Satz zusammengefasst: Ein Jogger, der Yoga hasst, pinkelt die Hand einer Frauenleiche frei.

Kurz sacken lassen.

Weiter geht’s.

In der Gerichtsmedizin entdeckt der Pathologe Wolfshaare am Körper der Verstorbenen, sowie Bissspuren beinahe jeder in Berlin lebenden Tierart – Großmütterchens Fiffi eingeschlossen. Während sich daraufhin drei Ermittler aufmachen, den animalischen Täter hinter dem vermeintlichen Tier-Mord zu finden, entlädt sich in der Hauptstadt jahrelang aufgestaute Aggression. Es geht um ein schon seit Anbeginn der Zeit im Kleinen diskutiertes Streitthema: Des Menschen bester Freund und die Allgegenwärtigkeit seiner Exkremente.

Ein Krieg zwischen Hundehaltern und Hundehassern bricht los, wie man ihn im größten Auslaufgebiet des Landes noch nicht erlebt hat.

„Hunde stammen von Wölfen ab. Du weißt schon.“

So skurril wie direkt zu Beginn, geht es in Lotte Brombergs zweitem Berlinkrimi die ganzen 360 Seiten über zu. Privatdetektivin Dao Nguyen lässt sich beispielsweise von ihrem ominösen Auftraggeber ans Ende der Welt fliegen, nur um bei ihrer Rückkehr zu bemerken, dass irgendein Irrer ihre Wohnung mit seinen Körperflüssigkeiten tapeziert hat. Hauptkommissar Oskar Blum bekommt es derweil mit den Menschen zu tun, die von Politikern gerne euphemistisch als „besorgte Bürger“ bezeichnet werden, und sein zwangsbeurlaubter Kollege Jakob Hagedorn, eine Berliner Version von Fred Vargas‘ Kommissar Adamsberg, ist dabei, sich in einen Wolf zu verwandeln. Was an und für sich schon Zündstoff genug wäre, wird durch die unberechenbare, zwischen Berliner Schnauze und Hochliteratur changierende Sprache der Autorin zum Pulverfass. Der Bromberg-Prosa-Brandbeschleuniger lässt die Bombe in den Synapsen hochgehen, als wäre nach jedem Satz Silvester.

Berlin, empöre dich!

Bei all der überschäumenden Komik sollte man sich nicht von den anderen Qualitäten dieses Romans ablenken lassen. Wenn Lotte Bromberg beispielsweise die Gespräche zwischen einer unbezahlten BZ-Praktikantin und ihrem Vorgesetzten schildert, in denen letztendlich nicht weniger beschlossen wird, als die Spaltung der Gesellschaft für eine etwas höhere Auflage in Kauf zu nehmen, dann ist das zwar Mediensatire mit dem Vorschlaghammer, aber eben auch erschreckend nahe an der Realität. Ähnlich verhält es sich mit dem Thema Umwelt, das ebenfalls eine große Rolle in Auslaufgebiet spielt. Angefangen bei denen, die einfach nur ihren eigenen Vierbeiner verteidigen wollen, lässt die Autorin eine ganze Riege studierter Öko-, und Biologen, sowie ein Bataillon Tier- und Naturschützer in den Straßen Amok laufen. Vom gemäßigt-realistischen Ansatz bis hin zur allseits beliebten „Der Mensch ist ein Virus“-Weltanschauung wird dabei alles vertreten, was Forschung und Popkultur hergeben. Und schließlich ist dieser „andere Berlinkrimi“ (furchtbar!) auch das Porträt einer Stadt, die so voller Gegensätze steckt, dass man ihr mit einem konventionelleren Buch gar nicht hätte gerecht werden können.

Es stank nach Katzenpisse, Kohlsuppe und billigem Rasierwasser. Unten im Haus plärrte ein Kind, ein Mann brüllte es nieder. Draußen schimpfte ein Martinshorn, dazwischen rief der Muezzin zum Gebet, Autos hupten wütend, Bremsen quietschten, Motoren heulten. Weddinger Sinfoniekonzert.

„Werwölfe“ in Uniform

Im Mittelpunkt steht trotz allem der Wolf, der einen schon vom Buchdeckel aus ins Visier nimmt. Hilflos schleicht er durchs Unterholz, getrennt von seinem Rudel, auf dem Weg in eine ihm feindlich gesinnte Zivilisation. Wie schon die nächtlichen Streifzüge der Füchsin in Saša Stanišićs Roman Vor dem Fest, ist die Odyssee des wilden Tieres gleichzeitig Rahmen für die restliche Handlung – fast schon im Stile einer Parabel. Denn auch in Menschengestalt tritt er auf, der canis lupus. Janine, eine Ausreißerin, die für ihre eigenen Artgenossen nur noch wenig übrig hat, findet in einer Auffangstation für Wölfe ein neues Zuhause. Mit jedem Tag, den sie dort verbringt, nimmt sie die Verhaltensweisen ihrer Schützlinge etwas mehr an. Doch sie ist noch gar nichts im Vergleich zu (Ex-)Polizist Jakob Hagedorn. Ihn verbindet eine Art telepathisches Band mit dem durch Brandenburger Wälder streunenden Tier, was letztendlich zu einer Metamorphose führt. Je weiter sich der Wolf aus dem Schutz der Bäume vorwagt, je näher er den Menschen kommt, desto stärker übernehmen Jakobs Instinkte die Kontrolle über seinen Körper. Seine Welt riecht immer intensiver, seine Sinne werden schärfer und schärfer, bis er in der U-Bahn plötzlich Lust bekommt, seinem Gegenüber etwas Fleisch aus dem Hals zu reißen.

Auf dem heimischen Fernsehgerät muss ein junger Mann, der zufällig ebenfalls Jakob heißt, Ähnliches durchleben. Wir begegnen ihm zum ersten Mal, als er gerade eine Plastiktüte voller blutiger Fleischstücke Richtung Waldrand schleppt. Er muss das schon öfter getan haben, denn eine identische, wenn auch leere Tüte hängt dort von einem Schössling herunter und tropft. Fliegen schwirren durch die Luft. Jakob steckt die Finger in den Mund und pfeift, aber der Wald bleibt still. Er geht zurück zu seinem Wagen, einem Polizeiauto, und steigt ein, fährt zurück ins Dorf, wo umgekippte Mülltonnen, Fußabdrücke am Straßenrand und Berichte von nächtlichem Heulen auf ihn warten. Der Wolf aber bleibt in Deckung. Bis die Nacht hereinbricht.

Blut als Bindemittel

Till Kleinerts Provinzhorror Der Samurai gehört ohne Zweifel zu den aufregendsten deutschen Filmen der jüngeren Zeit. Er verbindet scheinbar mühelos das Feeling amerikanischer Coming of Age Streifen mit Splatterelementen, trashigen B-Movie-Look mit symbolisch-ästhetischen Bildern und die Biederkeit des Heimatfilms mit einem hypnotischen Soundtrack á la Drive. Alleine schon die Tatsache, dass man mal eine hiesige Produktion mit einer solchen Genre-Perle vergleichen kann, ohne sich dabei lächerlich zu machen, sollte jeden Hobbycineasten von München bis Kiel aufhorchen lassen.

Michael Diercks gibt den Brandenburger Kleinstadtbullen mit Stock im Arsch derart gut, dass man anfangs denkt, er könne nicht schauspielern – dabei fühlt sich die Figur, die er verkörpert, einfach nur unwohl in ihrer Haut. Jakob tut stets was man ihm sagt, hält sich an die Vorschriften und kümmert sich rührend um seine pflegebedürftige Großmutter. Abend für Abend spielt er mit ihr Karten, bevor er sich in sein Kinderzimmer mit Leuchtglobus zurückzieht, während die „coolen Kids“ auf ihren Motorrädern Dorffeste unsicher machen und sich die Rübe wegknallen. Freundin? Dreimal dürfen Sie raten. Kein Wunder also, dass es ihn ihm brodelt.

Happy End mit Leichen

„Bist du bereit?“

„Wofür?“

„Für die Taufe.“

Die Person tritt auf, die alles verändert. Pit Bukowski spielt mit großer Hingabe einen Transvestiten im weißen Kleid, der katanaschwingend durch die Nacht wirbelt und die selbstgerechten Dorfbewohner von ihrem engstirnigen Denken befreit, indem er ihnen die Rübe abschlägt (Kill Bill, anyone?). Der junge Polizist verfolgt ihn auf Schritt und Tritt, verschmilzt immer mehr mit diesem männlichen Vamp, diesem menschgewordenen Wolf und seinem Heath-Ledger-Gedächtnisgrinsen. Am Schluss kommt es zum Tanz. Jakob bäumt sich in seinem inneren Gefängnis auf und findet inmitten einer Kunstblut-Orgie zu sich selbst. Eine gezogene Waffe, ein erigiertes Glied in Großaufnahme, Glückseligkeit, Ende. Und wie schon sein amerikanisches Vorbild Ryan Gosling, verabschiedet sich der neugeborene Held mit einem markigen Song in den Abspann.

Wo liegen nun die Gemeinsamkeiten dieser beiden Werke? Hören sie schon beim Wolf auf? Bei den Vornamen der Protagonisten? Erschöpfen sie sich bei der geographischen Nähe, beim Setting? Mitnichten. Beide, Buch und Film, stehen für eine Experimentierfreude, die man im deutschen Kulturbetrieb leider immer seltener findet. Hier werden Grenzen überschritten, und auch wenn dabei ab und zu mal etwas daneben geht, bleibt das Endergebnis doch spannender als alles, was in den letzten Jahren aus Hildesheim, Babelsberg und weiß der Kuckuck woher sonst noch aufs Publikum losgelassen wurde. Auslaufgebiet und Der Samurai sind Zeugnisse sprühender Kreativität und ihre Schöpfer zwei Freigeister, die sich – zum Glück – bisher nicht haben domestizieren lassen. „Der Wolf ist zurück, und er hat Hunger!

Alexander Roth

Lotte Bromberg: Auslaufgebiet. Memel Verlag, Berlin 2015. Broschur. 360 Seiten. 12,99 Euro, als E-Book 5,99 Euro.
Der erste Band der Reihe, Fallsucht, ist gerade ebenfalls in einer Neuausgabe beim Memel Verlag erschienen.

Der Samurai. 1 DVD inkl. Booklet, Feature „Behind the scenes“ und dem Kurzfilm Cowboy. Studio: Salzgeber & Co. Medien GmbH. Laufzeit: 79 Minuten. Darsteller: Michael Diercks, Pit Bukowski u. a., Regisseur: Till Kleinert. März 2015. Produktionsjahr: 2014. Sprache: Deutsch (Dolby Digital 5.1 /2.0). FSK: 16 Jahre.

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