Geschrieben am 1. April 2016 von für Bücher, Litmag

Roman: Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir

EnttäuOrhan Pamuk Fremdheitschte Sehnsucht – Geschichte in Geschichten

– Orhan Pamuk gibt mit seinem neuen Roman „Diese Fremdheit in mir“ einen ebenso mitreißenden wie auch tiefen Einblick in die politischen Umwälzungen der Türkei der letzten 30 Jahre. Dies geschieht fast nebensächlich. Im Zentrum stehen bei ihm die Menschen und ihre Geschichten in der Mega-City Istanbul. Von Jörn Borges.

Pamuk beginnt mit dem aufregendsten Moment im Leben seines Helden Mevlut. Der entführt mit Hilfe seines Cousins Süleyman seine Angebetete und wird hierbei bereits das erste Mal das Opfer einer familiären Intrige.

Durch die atmosphärisch dichte Beschreibung taucht der Leser in die spannungsreichen Veränderungen der türkischen Gesellschaft seit den 70iger Jahren ein. Mevlut hat in dieser Zeit mit seinem Vater Mustafa sein kleines Dorf verlassen, um in Istanbul als Straßenverkäufer sein Glück zu machen. Für ihn wird diese Arbeit jedoch mehr. Er ist der Beobachter der Menschen und der sie verändernden Stadt. Mevlut versucht zunächst mit Yoghurt , später mit leicht alkoholhaltigem Boza zu überleben. Die Leser werden zu seinem Begleiter bei seinen nächtlichen Zügen durch die Stadt. Sie erleben die kriegsähnlichen Auseinandersetzungen rechter und linker Gruppen und die Militärdiktatur mit ihren rigiden Verboten und Massenfolterungen. Sie erleben aber auch, wie die wieder eingerichtete Demokratie gerade von denen korrumpiert wird, die die Werte der in die Großstadt drängenden Landbevölkerung vor sich her tragen.

Keiner hat den Durchblick

Interessant wird dies dadurch, dass Pamuk Mevluts Erleben immer wieder durch die Erzählungen aus der Perspektive seiner Verwandten oder seines kurdischen Freundes Ferhat durchbricht, ergänzt oder kontrastiert. So wird die Fremdheit des Träumers Mevlut zu seiner Umgebung noch eindringlicher. Jeder hat im anarchisch wachsenden Istanbul seine eigene Strategie zum Glück. Keiner hat den Durchblick. Jeder fühlt sich im Recht. Mevluts Cousins Süleyman und Korkut setzen auf die Macht des Geldes und des türkischen Nationalismus. Mevluts Freund Ferhat  kämpft mit den Linken und versucht später als Stromableser halbkriminelle Nachtclubbetreiber zu erpressen.

Die drei Schwestern Vediha, Rayiha und Samiha mühen sich damit ab, im Einklang mit den Traditionen des Dorfes ihre Sehnsüchte zu erfüllen, die die Nachmittagsserien des Fernsehens in ihnen auslösen. Die Spielregeln des Althergebrachten und falsche Scham führen Mevluts Frau Rayiha in die Katastrophe. Erst ihren Töchtern gelingt der Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben. Dies geschieht nur scheinbar nach den Regeln der islamischen Moral der Türkei Erdoğans. Für die gibt es kein Zusammenleben zwischen Mann und Frau ohne Ehe und am Ende keine Ehe ohne Einverständnis der Familie. Pamuk entlarvt hier sehr einfühlsam die Doppelmoral. Am Ende akzeptieren die Eltern, wozu ihre Kinder sich entscheiden.

Doppelmoral und Verleugnung

Die Stärke von Pamuks Roman liegt auch darin, wie er die Schuld der jüngeren türkischen Geschichte fast beiläufig ans Licht bringt. Was offiziell verleugnet wird, bricht im Alltagserleben der Menschen immer wieder hervor. Da gibt es Wohnungen, für die eigentlich niemand Miete zahlt, weil ihre griechischen und armenischen Besitzer durch die Progrome in den 60iger Jahren vertrieben wurden. Da werden bei einem der vielen Neubauten die Grundmauern einer zerstörten Kirche entdeckt und weggerissen. Natürlich geht es hier nicht um Religion, sondern immer nur um schnellen Profit.

Der Versuch, in der anonymen Megastadt eine dörfliche Subkultur zu etablieren, gelingt nur scheinbar. Die Profiteure des wirtschaftlichen Aufschwungs nutzten ihre öffentlich zur Schau getragene  Religiösität, um die durch ihre Herkunft mit ihnen verbundenen Menschen auszunutzen. Die Erfolgreichen spenden noch für den Dorfverein, der seine Heimat in einer Wohnung der neuen Häuser gefunden hat, lassen sich aber selbst nicht mehr blicken. Ihre Kinder studieren schon lange in den USA.

Mevlut findet am Ende sein Auskommen. Der Boza-Verkäufer darf als Verwalter des Dorfvereins arbeiten. Er bekommt eine Wohnung der neu errichteten Hochhäuser mit Bosporus-Blick. Allein die Fremdheit verstärkt sich nur. Die neue Bleibe befindet sich im Erdgeschoss, vor dem Fenster liegt der Parkplatz mit den zwischen den Autos lärmenden Kindern. Glück findet Mevlut nicht in den meist trügerischen Errungenschaften der neuen Gesellschaft, sondern nur in der Erinnerung. Ihm bleibt das Gefühl der Fremdheit.

Jörn Borges

Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. München: Hanser, 2016. 592 Seiten. 26,00 Euro. eBook 19,99 Euro.

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