Geschrieben am 1. Juni 2016 von für Bücher, Litmag

Roman: Sascha Reh: Gegen die Zeit

g-Reh-Sascha-Gegen-die-ZeitDer „andere“ Sozialismus und die Kybernetik

– von Christiane Quandt

Mit „Gegen die Zeit“ legt der Berliner Autor Sascha Reh seinen dritten Roman vor. In seinem ersten 2011 erschienenen Buch „Falscher Frühling“ klopft er eine krisenhafte Familienkonstellation parallel zur aktuellen Theaterwelt ab und verquickt kunstvoll Form und Inhalt. Hier zeigt sich sein Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen, das bei seiner Tätigkeit als Familientherapeut sicherlich auch seinen Einsatz findet. Dies ist es aber nicht nur, was das Schreiben Rehs bestimmt, obgleich auch in seinem nächsten Buch „Gibraltar“ von 2014 familiäre Konstellationen und Problematiken unter seine Linse geraten; hier begibt er sich in die Untiefen der Finanzkrise – und es zeigt sich ein Thema, das ihn offenbar interessiert: die Krise. In ihren unterschiedlichsten Formen.

Während sich die ersten beiden Texte literarisch in der Gegenwart und geografisch in Europa bewegen, begibt sich der dritte Roman in die 1970er Jahre in Chile. Auf der Basis eines historischen Projekts der Allende-Regierung und verschiedener ebensolcher Figuren zeichnet Sascha Reh das weite Panorama eines kybernetischen Projekts, das die gesamte chilenische Güterproduktion vernetzen, steuern und optimieren soll. Erzähler ist hierbei der (west-)deutsche Industriedesigner Hans Everding, „Juan“ genannt, der den Auftrag hat, den Opsroom des in der Wirtschaftsförderungsbehöde CORFO angesiedelten und im Roman Cybernet genannten Projekts zu gestalten (Aus dem Nachwort erfahren die Leser den historischen Projektnamen SYNCO auf Spanisch und CyberSyn auf Englisch). In einem internationalen Team unter dem Briten Stanley Baud, der dem tatsächlichen Projektleiter Stafford Beer nachempfunden ist, begegnen sich erstmals Menschen unterschiedlichster Hintergründe und Nationalitäten, die diese geradezu monströse Vision mit den gegebenen Mitteln umsetzen sollen. Neben Hans Everding, dessen außerliterarisches Vorbild wahrscheinlich der deutschstämmige Designtheoretiker Gui Bonsiepe ist, befinden sich Ana, Óscar, Octavio und der aus dem Osten Deutschlands stammende Joachim im Team.

Das Projekt Cybernet selbst ist konzipiert als Rechenzentrum mit einem sogenannten Opsroom, wo in Echtzeit die Daten der chilenischen Industrieproduktion und Logistik auf einen futuristischen Bildschirm projiziert werden und so auf einen Blick ausgewertet werden und in Handlungsanweisungen übersetzt und rückgekoppelt werden sollen. Bei der Ausführung stößt das Team allerdings auf vielfache technische wie finanzielle Grenzen. Stanleys Idee beispielsweise, Daten in Echtzeit über die riesige IBM-Rechneranlage graphisch zu verarbeiten und darzustellen, entpuppt sich als völlig illusorische Zukunftsvision. Die mögliche Umsetzung sieht vielmehr so aus, dass zwischen den Daten und ihrer Darstellung auf dem großen Schirm des Opsrooms die Grafikerin steht, die von Hand eingängige Diagramme erstellt, welche ihrerseits abfotografiert werden und in Argentinien entwickelt werden müssen, denn in Chile gibt es kein Fotostudio, das Farbfotografien liefern kann; der ganze Prozess dauert dann idealiter eine Woche. Doch lässt sich Stanley von solchen Details nicht von seinen Plänen abbringen, geschweige denn entmutigen. Mit den vorhandenen Mitteln wird das Mögliche versucht.

Die Handlung setzt ein mit dem Militärputsch gegen Allende am 11. September 1973, die Leser treffen auf den Erzähler in medias res, der Putsch ist in vollem Gange, und der Strom geht aus. Atemlos wird ein detailreiches, doch nicht überfrachtetes Bild der Situation entworfen, Juan Everding erzählt:

„Señora Lorca, meine Vermieterin, hatte weder Telefon noch Fernseher, im Radio waren nur schnarrende Anweisungen zu hören, ansonsten Arbeiterlieder oder preußische Märsche, je nach Sender. Ich wusste und erfuhr nichts über die Lage draußen, konnte sie nur am Kreisen der Helikopter ermessen, mit denen man die Einhaltung der Ausgangssperre kontrollierte, und an der Häufigkeit der Feuergarben.“ (S. 10)

Diese Ebene ist die Jetztzeit des Romans; insgesamt deckt das Buch allerdings die zwei Jahre ab, die seit Everdings Ankunft in Chile vergangen sind. Verschiedene Momente der chilenischen Geschichte werden hier aus Sicht des Cybernet bzw. Everdings berichtet. Es gelingt hier bemerkenswert gut, die Zeitsprünge in überraschende filmartige Überblendungen zu verpacken. So geht eine Liebesszene so gut wie nahtlos in eine Folterszene über, eine Demonstration in Chile mündet in die Erinnerung an die 68er Studentenproteste in Frankfurt, um nur zwei Beispiele zu nennen. Auch die Erzählperspektive hält Überraschungen bereit. Was auf den ersten Blick zuweilen unpersönlich anmuten mag, entpuppt sich als erzählerische Strategie, die kybernetische Schaltzentrale behutsam zu personifizieren; hierbei verkommt die Figur Everdings gelegentlich zum bloßen Platzhalter, dessen Stimme der Erzählung zur Verfügung gestellt wird und der im Auftrag von etwas Größerem spricht und handelt. Dieser erzählerische Kniff verleiht dem Projekt tatsächlich gewissermaßen eine eigene Stimme. Dies führt dazu, dass die Leser – getreu dem sozialistischen Traum Allendes – nicht unbedingt nur mit einer Figur mitfiebern, sondern tatsächlich mit einer Vision.

Reh_GibraltarAllendes Chile: eine sozialistische Vision

Der historische Hintergrund, den sich der Autor in unermüdlichen Recherchen in Bibliotheken und Archiven in und außerhalb Chiles angeeignet hat, fließt organisch in den Roman ein. Die historischen Stationen, vor deren Hintergrund die Geschichte des Cybernets, von der hochtechnischen Vision eines Internets avant la lettre zur behelfsmäßigen Ausführung mithilfe von Fernschreibern und Telefon erzählt wird, lassen den Leser eintauchen in die Stimmung der Zeit. Obgleich Allende auch aufgrund seiner demokratischen Legitimation als gewählter Präsident die Mehrheit der Chilenen hinter sich hatte, war das Land doch in zwei Extreme gespalten. Hier gelingt es, diese Stimmung und auch deren alltägliche Auswirkungen und Eskalationen glaubhaft zu schildern. Die Debatten, die im CORFO in brisanten Situationen wie während des Generalstreiks stattfinden, der in der Folge des dreiwöchigen Staatsbesuchs Fidel Castros das komplette Land lahmlegte, zeigen anhand lebendiger Figuren, welche Argumentationen und Überzeugungen die Menschen zu ihrem Handeln trieben. Auch gewaltsame Szenen, die immer wieder erzählt werden, geben dem Leser einen zuweilen etwas zu lebendigen Eindruck von der angespannten politischen Lage. Gegen Ende des Romans wird beispielsweise der Überfall einer rechten Gruppe in der Universität geschildert:

„Sie waren mit Eisenstangen bewaffnet und schlugen auf die Studenten ein (…). Die dunklen Hemden und die unübersehbaren Armbinden mit dem Zeckenemblem der Angreifer ließen keinen Zweifel daran, dass sie Mitglieder der Patria y Libertad waren. (…) Ohne nachzudenken hielt ich die Brechstange, die er über den Kopf gehoben hatte, fest und riss sie ihm aus der Hand. (…) Und während ich mich damit begnügte, ihn in Schach zu halten (…) war die Frau aufgestanden und hatte dem Schläger, begleitet von einem Wutschrei, die Maske heruntergerissen.
Es war ein Student. Nicht aus einer meiner Klassen, überhaupt kannte ich den Mann nicht; aber die Art und Weise, wie die Frau ihn ansah und nach Worten rang, machte klar, dass sie in ihm einen Kommilitonen erkannt hatte (…).“ (S. 339ff)

Bei diesen wichtigen politischen Hintergrunddebatten spielt die Figur Emilio eine zentrale Rolle. Er wird dem Erzähler in verschiedener Hinsicht gegenübergestellt; einerseits ist er mit Ana, der Designerin des Projekts, zusammen, um deren Gunst Hans Everding mit mehr oder minder großem Erfolg im gesamten Romanverlauf buhlt. Andererseits steht er für die Position der extremen Linken in Chile, für die Allendes demokratischer Weg viel zu wenig extrem war. Emilio führt mit seiner Gruppe eigenmächtige Enteignungen bzw. „Umverteilung von Gütern“ im Land durch und bewegt sich damit an jener moralischen Grenze, die im Deutschland der späten 1960er und 70er Jahre von extremen Gruppierungen vielfach überschritten wurde.

Pinochets Putsch

Diesen Aktivitäten der extremen Linken wird die gewalttätige und brutale Handlungsweise der Schergen Pinochets nach dem Putsch gegenübergestellt. Das CORFO erweist sich nun als zentraler Ort, denn hier liegen wertvolle Informationen darüber, welche Fabriken mit dem „Cybernet“ verbunden waren und folglich mit Allende sympathisierten sowie die beachtliche Datenmenge zur Produktion dieser Fabriken, die bereits angesammelt werden konnte – säuberlich auf Magnetband dokumentiert. Diese Magnetbänder sind es auch, die den Erzähler mehrfach beinahe das Leben kosten, ihn aber letztlich doch retten. Anhand dieser Bänder wird literarisch verhandelt, wie eine brisante politische Situation in Zusammenspiel mit der Androhung von Folter und Tod eine Gruppe Überzeugter zu spalten vermag. Das mühsam aufgebaute Vertrauen geht mit dem feisten Lächeln eines Uniformierten mit Fliegersonnenbrille, der den Strom aufdreht, unter dem sich ein menschlicher Körper verkrampft, in Rauch auf. Es verschwimmt, wer Freund und wer Feind ist und der kybernetisch-sozialistische Traum ist ausgeträumt.

Aber es war ein schöner Traum, der ebenso schön literarisch umgesetzt ist und neben einer spannenden Handlung, literarischer Finesse und glaubwürdigen Figuren mit einem Schmankerl für Nerds aufwartet: Die Kapitel sind in Binärcode nummeriert.

Balance zwischen historischen Fakten und Spannungsbogen

Insgesamt gelingt Sascha Reh ein literarisches Werk, das sowohl für Leser funktioniert, die mit der chilenischen Geschichte vertraut sind, als auch für solche, die zum ersten Mal etwas über dieses lateinamerikanische Land lesen. Durch eine gelegentlich etwas ungewöhnliche Verwendung der deutschen Sprache wird zusätzlich eine gewisse Befremdung kreiert, die den Leser daran erinnert, dass sich die Hauptfigur nicht im vertrauten Sprachraum bewegt. So spricht Emilio in einer der zahlreichen politischen Debatten beispielsweise folgenden Satz aus:

„Es geht nicht darum, in den Geschichtsbüchern gut auszusehen“, sagte er. „Die Rechte wird tausendmal blutiger und schrecklicher Rache üben, wenn sie die Überhand gewinnt.“ (S. 104)

Ob sich hier die „Überhand“ (statt Oberhand) aufgrund der vorwiegend auf Englisch abgewickelten Recherchen heimlich eingeschlichen hat oder eine Strategie darstellt, spielt letztlich keine Rolle. Denn der Text wartet immer wieder mit unauffälligen Stolpersteinen auf, die den Lesefluss nur beinahe stören und so zu einem leichten Gefühl der Fremdheit führen können. An anderer Stelle wird mittels der Sprache fast heimlich auf eine historische Gegebenheit hingewiesen, die dem deutschen Leser eine Gänsehaut über den Rücken treibt: einer der Pinochettreuen, Brauer, spricht deutsch, allerdings ein bemerkenswert gut dargestelltes Einwandererdeutsch der zweiten Generation:

„Ich habe beobachtet“, antwortete ich Brauer.
„Beobachtet haben Sie? Wie bei diesem Versuch? Wie heißt noch mal dieser Mann? Heissenbach? Wenn man die Dinge beobachtet, verändert man die Dinge?“
„Sie meinen Werner Heisenberg, und ganz so einfach ist es, glaube ich, nicht.“
„Es ist nur… wie sagen Sie das: Parabol?“
„Parabel. Gleichnis.“
„Gleichnis, ja! Wir brauchen simple Gleichnisse, um komplette Dinge zu begreifen, meinen Sie nicht? Die Bewegung der Atome. Oder denken Sie nur: die Sonne geht auf!“
(…)
„Herr Everding, ich versuche Ihnen zu helfen. Aber Sie müssen mit mir kooperieren. Ich möchte, dass Sie mir erklären, wie Ihr Apparat funktioniert.“ (S. 120)

Was im Text nicht explizit aufgeklärt wird, dürfte hinlänglich bekannt sein. Hier kriecht die Vermutung, dass Brauer Nachkomme nach Chile geflüchteter deutscher Kriegsverbrecher ist, in den Text und zieht die historische Querverbindung zwischen den Folterknechten unterschiedlicher Zeiten und unterschiedlicher Kontexte, die sich in ihrer Erbarmungslosigkeit in nichts nachstehen.

„Gegen die Zeit“ ist ein spannender Roman, bei dem man etwas lernt, das über historische oder politische Gemengelagen und faszinierende Fakten hinausgeht: Der Text hat etwas damit zu tun, was Hannah Arendt die Banalität des Bösen nennt; der Übergang des Ausnahmezustandes in eine Art Ausnahmealltag und das, was mit Beziehungen und mit Menschen geschieht, die sich inmitten dieses grausamen Übergangs bewegen. Zuletzt sind es vielleicht doch die zwischenmenschlichen Beziehungen, die den Autoren bewegen, den Blick auf ganz unterschiedliche Krisen zu lenken.

Christiane Quandt

Sascha Reh: Gegen die Zeit, Schöffling & Co., 2015. 351 Seiten. 21,95 Euro.

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