Strandende Schicksale, unendliche Geschichten
– Wo liegt die Wahrheit, gibt es sie überhaupt? In ihrem Roman „Erschlagt die Armen“ verzweifelt Shumona Sinha an der Flut an Geschichten der „Asylanten“. Beinahe zumindest. Von Ulrich Noller
Paris, eine überfüllte Metro, ein Disput – eine junge Frau zerschlägt eine Weinflasche auf dem Kopf eines Mannes. Beide sind Migranten, sie stammt wohl aus Asien, er aus einem afrikanischen Land. Die Frau war versehentlich an den Mann gestoßen, von hinten, er hat sich umgedreht – sie erkannt und dann sofort heftig bedrängt und beschimpft. Was geschehen ist, ist also im Grunde klar.
Mit dem Auslöser für ihre heftige Reaktion ist es allerdings nicht ganz so einfach: Die Frau, sie ist die Erzählerin von Shumona Sinhas Roman „Erschlagt die Armen!“, arbeitet als Dolmetscherin für die Pariser Asylbehörden, deshalb hat sie der Mann aus der Metro, den sie versehentlich touchierte, auch erkannt. Die Begegnung der beiden, die zum Eklat führte, ist für sie allerdings nur das letzte Glied einer Kette an Ereignissen, Gefühlen und Gedanken; der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Wie es dazu kam, rekonstruiert dieser Roman, während die Erzählerin in Polizeigewahrsam sitzt, sich für ihre Tat rechtfertigen und die Entscheidung abwarten muss, welche Konsequenzen der Schlag mit der Flasche für sie haben wird. Sie ist selbst Migrantin, allerdings eine schon seit Jahren etablierte, trotzdem nicht wirklich heimisch geworden; ein „Bindestrich“ zwischen denen, die da sind in Europa und denen, die gern da sein wollen: Den (Armuts-)Flüchtlingen, für die Europa die einzige, letzte Hoffnung ist.
Wie umgehen mit der Völkerwanderung?
Ihre Geschichten sind es, die die Erzählerin irgendwann nicht mehr ertragen konnte: Geschichten von Hunger, Willkür, Leid, Vergewaltigung, Vertreibung. Geschichten, die sich ähneln und die sich wiederholen – auch deshalb, weil die Asylbewerber, wollen sie auch nur den Hauch einer Aussicht auf Erfolg bei den Behörden haben, eine bestimmte Art von Geschichten erzählen müssen. Lügengeschichten also, gezwungenermaßen, allerdings mal mehr, mal weniger wahre. Geschichten jedenfalls, die über Alles oder Nichts entscheiden; Geschichten, die funktionieren müssen. Und mittendrin, verloren zwischen alldem, die Übersetzerin, die weder den einen noch den anderen gerecht werden kann, und am wenigsten sich selbst. Und die das alles irgendwann nicht mehr ertragen kann.
Shumona Singha, geboren 1973, aufgewachsen in Kalkutta, weiß wovon sie schreibt, sie kam 2001 nach Paris und jobbte lange als Dolmetscherin bei den Ausländerbehörden, bevor sie den Job – wegen der Veröffentlichung dieses Romans – 2011 verlor.
Neben Merle Krögers Politthriller „Havarie“ und Jenny Erpenbecks Roman „Gehen, ging, gegangen“ (zur CM-Rezension) ist „Erschlagt die Armen!“ ein weiterer wichtiger Roman zur Stunde angesichts der Flüchtlingskrise. Einer, der den kafkaesken Bürokratie-Irrsinn der Maschinerie seziert – einer aber auch, der den Finger gnadenlos in die offene Wunde legt: Wie umgehen mit dieser Völkerwanderung, wie dem Einzelnen gerecht werden, wenn der Einzelne mit seiner Geschichte in der Flut der Geschichten im Grunde nicht mehr viel zählt?
Ulrich Noller
Die Rezension ist zuerst auf der Homepage des WDR erschienen.
Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! (Assommons les pauvres!, 2011) Roman. Aus dem Französischen von Lena Müller. Nautilus Verlag 2015. 128 Seiten. 18,00 Euro.