Kaiserliche Dschihad-Planspiele am Hindukusch
Steffen Kopetzkys historischer Roman „Risiko“ beschreibt die geheime deutsche Hindukusch-Expedition von 1915: Diese 60 Mann starke Niedermayer-Hentig-Expedition sollte während des Ersten Weltkriegs in Afghanistan einen Dschihad anzetteln und das Deutsche Reich als dominierende Großmacht gegen die Russen und Engländer im „Great Game“ positionieren. Von Peter Münder
„Es war ein Bürokratenplan, trotz seiner sachkundigen Details. Die Durchquerung der persischen Wüste war für sie nur ein Satz: Die Wüsten Persiens werden durchquert… So sehr Niedermayer die britische Weltherrschaft verabscheute und alles dafür tun wollte, sie zu beenden, mit dieser Idiotentruppe und Wassmuss als Strippenzieher würde Niemayer keinen Schritt Richtung Afghanistan gehen. Dann lieber wieder an die Front“.
Der bayrische Marinefunker Sebastian Stichnote ist im Sommer 1915 während des Mittelmeer-Einsatzes auf dem Kreuzer „Breslau“ gut beschäftigt: Er muss Morsesignale abfangen, defekte elektrische Installationen reparieren und angeschmorte Kabel ersetzen, die von Ratten angefressen wurden. Dann wird Stichnote zum Schutz des deutschen Fürsten Wied ins albanische Durazzo abkommandiert, wo Aufständische gegen den gerade als König von Albanien inthronisierten Fremdherrscher rebellieren. Nun überschlagen sich die Ereignisse: Stichnote hat eine heiße Affäre mit einer feurigen Albanerin, deren Brüder ihn am liebsten massakrieren wollen – er kann aber rechtzeitig auf der „Breslau“ untertauchen und nimmt an der Bombardierung des algerischen Hafens Bone teil, was zur Verfolgung der „Breslau“ und des Schwesterschiffs „Goeben“ durch britische Kriegsschiffe führt. Die Deutschen können sich nur knapp nach Konstantinopel retten.
Hier beginnt dann die abenteuerliche Niedermayer-Hentig-Expedition zum Hindudkusch, die das damalige Nahost-Machtgefüge zerstören und die Mittelmächte zur dominanten Kraft machen sollte. Doch das von sechzig Orientalisten, Diplomaten und Militärs durchgeführte Unternehmen war aufgrund schlampiger Planung, konfuser Ziele und naiver Strategien von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Aber das Kalkül des kaiserlichen Think Tanks „Nachrichtenstelle für den Orient“ war auf die Verselbständigung eines Mechanismus mit eingebautem Autopilot-System fokussiert: Was kann schon schiefgehen bei so einem grandiosen, von Militärs, Orientalisten und Bürokraten entwickelten Masterplan, der auf der Manipulation islamistischer Fanatiker beruht? Die sollten, angestachelt mit Geld, Waffen und der Propaganda-Postille „El-Dschihad“, in Berlin in arabischer Sprache fabriziert, den Dschihad gegen die Briten und Russen anzetteln, so dass die kaiserliche Großmacht sich vom Suezkanal bis zum indischen Ozean die Oberherrschaft sichern konnte. Ausgeblendet hatten die Berliner Planer die britischen Niederlagen in Afghanistan und die extreme Aversion der Afghanen gegen ausländische Interventionisten – was sich bis heute nicht geändert hat.
Kopetzky, 43, hatte 2002 mit seinem spannenden Eisenbahn-opus „Grand Tour“ einen stark beachteten Bestseller produziert und dann den postmodernistischen, verspielten Roman „Der letzte Dieb“ nachgelegt. Er verfasste auch Hörspiele und Theaterstücke, war Leiter der Bonner Theater-Biennale und ist jetzt Kulturreferent in Pfaffenhofen. Ihm gelingt in „Risiko“ der Spagat zwischen spannendem Karl-May-Abenteuer und historischem Exkurs im Stil der großen britischen Orientalisten Burton oder St. John Philby, auch wenn der Trend zum saftigen Kolportage-Drama mit der eingeschobenen Love Story („Sie warf einen ungläubigen Blick auf seinen Schwanz, der so lang war, dass er sich ein wenig durchbog“) übersteigert wirkt. Im Umfeld des „Great Game“ bleibt er auf die politischen Konflikte fokussiert und kann etwa mit einem kleinen Exkurs über das exotische afghanische Reiterspiel Buzkashi die dahinter steckende Raubzug-Mentalität illustrieren.
Langfristig angelegte ideologische Strategien, das demonstriert Kopetzky souverän, widersprechen einer auf lokale afghanische Stammestraditionen fixierten, spontanen aktionistischen und opportunistischen Weltsicht. Der Versuch der deutschen Abenteurer, mit einem Sendschreiben des Kaisers und versprochenen militärischen und finanziellen Mitteln den afghanischen Emir Habibullah zum Dschihad und einem Umschwenken ins Lager der Mittelmächte zu locken, entpuppt sich daher auch als unrealistische Traumtänzerei.
Kopetzkys Hauptfigur Stichnote ist ein faszinierender Allrounder, der eine dramatische Entwicklung durchläuft: Auf dem Weg von Konstantinopel nach Kabul muss er die zentnerschwere Funkausrüstung immer stärker dezimieren, weil die Kamel-Karawane ohnehin schon zu viel mitschleppt – so wird aus dem Funker-Nerd der „Vogelmann“, der sich auf Brieftauben für die Nachrichtenübermittlung kapriziert. Er wird opiumsüchtig, da er seine rasenden Zahnschmerzen nur mit Opium lindern kann; doch ihm gelingt schließlich der Ausstieg. Stichnote hat zwar einen Hang zur Träumerei, er bewährt sich aber in lebensgefährlichen Krisensituationen.
Kann man politisch-militärische Entwicklungen beim Würfelspiel antizipieren?
Das zweite Leitmotiv des Romans ist neben der Indoktrinations-Thematik das Ausloten des Realitätsbezugs: Wie erfolgreich kann eine Propaganda-Aktion sein, wenn die Expeditionsleiter nur mit einem abstrakten Masterplan im Kopf Revolten anzetteln und einen Religionskrieg für eigene politische Ziele instrumentalisieren wollen? Wenn Stichnote sich am militärstrategischen Brettspiel „The Great Game“ (eine Art „Diplomacy“) mit Zinnsoldaten und kleinen Kanonen beteiligt, wird er auch deswegen vom Jagdfieber erfasst, weil er meint, auf dem Brett schon zukünftige geopolitische Tendenzen und Veränderungen zu erkennen. Jedenfalls ist er als kritischer Beobachter und strategischer Profiteur eklatanter Mitspieler-Schwächen beim Spielen erfolgreicher als andere Offiziere, die glauben, mit immensem Zinnsoldaten- und Kanonen-Aufgebot den Erfolg erzwingen zu können. Stichnote hat beim Spiel eine Blaupause vor Augen, die ihm als praktische Anweisung für das Bewältigen konkreter Probleme dient – das Würfeln beim Brettspiel, das Auftauchen immer neuer Probleme und Turbulenzen ist für ihn jedenfalls der Garant für einen soliden Realitätsbezug. Insofern könnte man ihn auch als den ersten „Chaos-Theoretiker“ des 20. Jahrhunderts bezeichnen.
Die stark dezimierte Truppe um Niedermayer kehrt nach mörderischen einjährigen Strapazen ohne brauchbare Ergebnisse zurück nach Berlin. Zieht man Bilanz und vergleicht dieses Unternehmen von Orient-Forschern und Militärs, das ja kein militärischer Feldzug, sondern eine von Anfang an aussichtslose Agitprop-Mission war, mit den Scharmützeln, die sich TE Lawrence um dieselbe Zeit mit osmanischen Truppen lieferte, dann wirkt die kaiserliche Afghanistan-Truppe – wie Kopitzky sie uns hier präsentiert- als Häuflein bunt zusammengewürfelter, neugieriger, abenteuerlustiger Forscher doch sehr sympathisch.
In seinem Nachwort hat Kopetzky historische Quellen zur Hindukusch-Expedition angegeben, außerdem auch einige Romane, die ihn zu „Risiko“ anregten. John Buchan (1875-1940, ab 1917 britischer Spionagechef) nennt Kopetzky als herausragenden, inspirierenden Autor: Der hatte ja schon in „39 Stufen“ (1915) eine klassische Spy Novel fabriziert und mit „Greenmantle“ (1916) das Genre des rasanten, abenteuerlichen Spionage-Romans weiter perfektioniert. Keine Frage: Auch Kopetzkys faszinierender, zwischen akkuratem Historiker-Epos, Karl-May-Abenteuer und Spionage- Genre angelegter Erzählstil ist vom grandiosen Großmeister Buchan, Verfasser von vielen Romanen und Biographien beeinflusst worden. Neben diesem hyperaktiven Autor, Parlamentarier und Staatsmann Buchan, dem die pedantische bildungsbürgerliche Trennung von E-und U-Literatur genauso schnuppe war wie dem fabelhaften Autor von „Risiko“ kann Kopetzky jedenfalls souverän bestehen.
Ihm ist ein großer Wurf locker gelungen; die wenigen allzu exotischen kolportagehaften Passagen interpretiere ich mal als orientalische Ornamente, die zu Kopetzkys Technik einer „Total Immersion“ einfach dazu gehören.
Peter Münder
Steffen Kopetzky: Risiko. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2015. 731 Seiten. 24,95 Euro.