Packende Jahrhundert-Collage
– Der junge Pole Szcepan Twardoch ist derzeit eine der spannendsten Stimmen der europäischen Literatur. Schon mit seinem Debut „Morphin“, in dem er die widersprüchliche Atmosphäre vor dem Zweiten Weltkrieg im besetzten Warschau auf ebenso avancierte wie eindringliche Weise einfing, erregte er Aufsehen. Nun hat er mit „Drach“ einen inhaltlich und formal noch wagemutigeren Roman vorgelegt und erzählt in virtuoser Montage die Geschichte eines an Kriegen Katastrophen und Konflikten reichen Jahrhunderts am Beispiel Schlesiens.
Im Fokus des Romans steht Josef Magnor, der 1906 auf dem elterlichen Hof das Schlachten eines Schweins beobachtet und 1918 nach vier Jahren Krieg inklusive den Schlachtfeldern von Loretto und Lens wieder den Geschmack der Wurstsuppe auf der Zunge hat. Dann kehrt er heim nach Schlesien, diesem Landstrich, in dem die Grenzen zwischen Deutschen und Polen und denen, die nicht so genau wissen, wo sie denn stehen (sollen), sich immer wieder verschieben und mal die einen und mal die anderen die Oberhand haben. 1919 nach dem Vertrag von Versailles begreift dir vornehme Dolores Ebersbach, die Mutter der späteren jungen Geliebten von Josef Magnor, „dass die Welt sich unwiderruflich und vollständig geändert hat, dass ihre Welt verschwunden und eine neue Welt geboren wurde.“ In dieser neuen Welt passiert es dann, dass Josef, der den Krieg nur äußerlich unversehrt überstand, ihre Tochter Caroline ermordet und einen jungen Leutnant gleich dazu. Er flieht in die Tiefe und das absolute Dunkel eines Bergwerks und vegetiert später bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Irrenhaus dahin.
Über die Folge-Generationen hinweg erzählt Twardoch die Geschichte bis in die Jetztzeit zu Josefs Urenkel Nikodem, der ein gefeierter Architekt ist, sich mit Xanax und Wein über Wasser hält und dem gerade seine junge Geliebte „entschlüpft“ ist. Dazwischen lernen wir weitere Protagonisten aus dem Stammbaum der Magnors und eine Unzahl von Nebenfiguren kennen, die auftauchen und deren Lebensweg bis zum Tod im Zeitraffer erzählt wird. Mit immer schnelleren Schnitten rast Twardoch in seinem Roman durch Zeit und Raum – vom Ersten und Zweiten Weltkrieg bis zum neuen Jahrtausend und zurück bis in die Urgeschichte Polen und Schlesiens. So entsteht eine höchst avancierte Collage des Liebens und Entstehens, aber viel mehr noch der Gewalt, des Hasses und des Todes. Denn gestorben wird viel in „Drach“: auf den selten so eindringlich beschriebenen Schlachtfeldern und Scharmützeln der Weltkriege, in der Auseinandersetzung zwischen Polen und Deutschen, in den KZ’s, aus Liebe und Eifersucht – und in barocker Manier sickern die Säfte der verwesenden Körper dann langsam in die Erde zurück.
Und eben diese Erde lässt Twardoch in einem genialen Coup als allwissende Ich-Erzählerin auftreten. Sie ist eine lakonisch-mitleidslose Chronistin des Menschen-Schicksals und sieht alles in den ewigen Kreislauf der Natur eingeordnet: „Mensch, Baum, Reh, Stein, ich. Alles das Gleiche.“
„Drach“ ist ein radikaler Roman, der mit seiner Schnitttechnik Zeit und Raum verschränkt und mit einer höchst sinnlichen Erzählweise zugleich einen episch-monströsen Strom schafft, der den Leser packt und mitreißt.
Karsten Herrmann
Szczepan Twardoch: Drach. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin. 414 Seiten. Euro.