Tanz am Abgrund
– von Karsten Herrmann
Mit „Der Jonas-Komplex“ legt der österreichische Erfolgsschriftsteller Thomas Glavinic einen ganz und gar anarchisch-monströsen Roman vor, der an seine zahlreichen Vorgänger anknüpft und in dem neben einem Alter Ego des Schriftstellers auch der Milliardär Jonas wieder eine zentrale Rolle spielt.
Der Roman besteht aus drei nebeneinanderher laufenden und sublim miteinander verschachtelten Erzählsträngen, die jeweils am Neujahrstag beginnen und über die Dauer eines Jahres laufen: Da ist der aus der Ich-Perspektive erzählende und ohne Zweifel autobiografisch gefärbte Erfolgsschriftsteller, der im zerstörten Zustand aufwacht und sich an den Sex der vergangenen Nacht zu erinnern versucht. Er, der eigentlich nur schwer mehr als einen Menschen auf einmal verträgt, vertreibt seine Ängste, Zweifel und Sehnsüchte mit einer absurd großen Mengen von Alkohol, Kokain, Xanax und anderen Antidepressiva – so lange, bis Welt und Ich wieder einigermaßen zusammenpassen: „Das da draußen ist die Welt, das hier drinnen bin ich, heute können wir koexistieren.“ Er lebt das Leben im Exzess und zerstört sich systematisch selbst. Letzten Halt gibt ihm sein namenloses „Kind“, das er hingebungsvoll beim Schlafen beobachtet.
Der zweite Erzählstrang dreht sich um den Milliardär Jonas, den wir bei Glavinic schon in „Das größere Wunder“ kennengelernt haben. Nachdem er bei einer Expedition am Mount Everest beinahe den Tod gefunden hat, beschließt er, mit seiner Freundin Marie allein zum Südpol zu wandern. Zwischenzeitlich lässt er sich in einer fortwährenden „Steigerung existentieller Abwegigkeiten“ von seinem Freund und Berater Tanaka an allen Ecken der Welt betäubt aussetzen, um wieder zurück ins Leben und die Zivilisation zu finden. Jonas plagt neben seinem unendlichen Reichtum ein Grundproblem unserer Zeit: „Wenn man alles kann und alles darf, hört die Freiheit auf, und man ist Gefangener seiner Möglichkeiten.“
Im dritten Erzählstrang lernen wir schließlich im Jahr 1985 einen dreizehnjährigen Jungen in der Weststeiermark kennen (auch hier ist eine Parallele zum 1972 in Graz geborenen Glavinic offensichtlich), der bei der stets betrunkenen und nymphomanen Uriella lebt. Auch er steht quer zu dieser Welt, sieht überall „die Gefahr, nicht die Chance“ und ist ein vielversprechendes Schachgenie.
Mit anarchischem Furor jagt Thomas Glavinic den Leser durch das Leben seiner drei Hauptprotagonisten. Auf einer existenziellen Folie von Zweifel und Überdruss an dieser Welt, in der alles lose ist und wir „alleine mit anderen leben“, breitet er Episoden des exzessiven Rausches, des exzentrischen Lebens und Denken, der Erinnerung und des Übersinnlichen aus. Ganz nebenbei zitiert und kommentiert er auch noch aktuelle Zeitereignisse von der Griechenlandkrise über den IS-Terror bis zu den Flüchtlingsströmen und bringt seinen Schriftstellerkollegen Stefan Beuse als Trinkkumpanen ins Spiel.
Es ist die Logik des Rausches, die in diesem Roman waltet, die Logik der Improvisation, des spontanen Einfalls, der Pointe und der Provokation. Hier wird nichts durch eine Dramaturgie, einen roten Faden oder einen Rahmen zusammengehalten, hier zählt nur das Erzählen als Wagnis, als Tanz am Abgrund. Es ist auch ein Tanz am Abgrund des Banalen und Beliebigen, aber Thomas Glavinic fällt nicht und vermag den Leser mit seinem irrwitzigen Erzählstil auch über die weite Strecke von 750 Seiten zu bannen.
Thomas Glavinic: Der Jonas-Komplex. S. Fischer, 2016. 750 Seiten. 24,99 Euro.