Ein ehemaliger „Spiegel“-Redakteur enthüllt sein wahres Ich.
Wenn dem bis Ende 2014 fest angestellten Literaturkritiker des Spiegel“, Volker Hage (66), daran gelegen war, uns in seinem ersten Roman „Die freie Liebe“, ein Debüt also, einen emotional unterentwickelten Jüngling zu präsentieren, dann ist ihm das grandios gelungen. Von Frank Göhre.
Es ist sein Alter Ego. Er nennt ihn Wolfgang („Wolf“) Wegener und schickt ihn von Lübeck in das München des Jahres 1971: „Ich habe zum Glück das Fischer-Taschenbuch mit Thomas Manns Novelle dabei.“ („Tonio Kröger“, die Unvereinbarkeit von Künstlertum und bürgerlichem Leben).
So thematisch etabliert kommt der junge Wolf in die große Stadt, in der – feinsinnig beobachtet und notiert – eine Karbonade Kotelett genannt wird, die Straßenbahn eine Tram ist und man das abendliche „um den Block“ gehen nicht kennt.
Er studiert Germanistik – was ihn und uns nicht weiter kümmern soll –, liest bevorzugt die „FAZ“ und auch den „Spiegel“, geht ins Kino und sieht die derzeit aktuellen Filme von van Ackeren („total öde“), Rudolf Thome („mit der unglaublich schöne Uschi Obermeier“ – richtig geschrieben: Obermaier) und „Das Wiegenlied Totschlag“ („brutal“).
Ebenso äußerlich werden alle weiteren kulturellen und politischen Ereignisse des Jahres abgehakt. Jeder „Wikipedia“-Eintrag ist da unterhaltsamer, informativer ohnehin.
Aber okay. In des kleinen Wolfs penibel geführten Tagebuch geht es ja auch nicht um Erhellung oder differenzierter Sicht auf Zeitgeschichte, sondern primär um ein Fick-Verhältnis, das irrtümlicherweise mit „freier Liebe“ verwechselt wird.
Wolf nämlich ist in eine WG gezogen, und das, obwohl die Mutter aus dem fernen Lübeck gemahnt hat: „Du wolltest dir doch eine nette Wirtin suchen, die dich ein bisschen verwöhnt“. Aber nichts da. Statt der netten Wirtin verfällt der beziehungsmäßig äußerst unbedarfte Studiosus der Mitbewohnerin Larissa, Lissa genannt, die allerdings mit dem weiteren WG-ler Andreas „tatsächlich verlobt“ ist.
Doch es kommt, wie es kommen muss.
Eines Morgens „fiel kurz ihr Bademantel auseinander“ (Hoppla!), und Wolf notiert erregt: „Mein Gott, ist sie schön. Sie war nackt darunter, ich sah eine lange Sekunde auf ihre großen Brüste und das pechschwarze Schamhaar.“
Von Brüste und Schamhaar wird in den Aufzeichnungen des – wie sich inzwischen herauskristallisiert hat – Möchtegern-Künstlers noch einige Male die Rede sein. Man geht zusammen baden und Lissa juchzt: „Du, Andreas, ich glaube der Wolf stößt unheimlich gern gegen meine Brust!“ Wolf hört mit ihr „Chicago“ live im Circus-Krone-Bau („pro Karte 13,50“ – wieder so ein aufschlussreicher Kommentar) hockt danach mit ihr auf Andreas großer Matratze (Andreas ist verreist), sie trinken Wein (leider ohne weitere Angaben, vermutlich aber „Amselfelder“, Joan Baez auf dem Plattenteller, und Lissa ergreift die Initiative und sagt: „Komm!“
Sie nennt es „eine Geschichte machen“, und die Beiden schauen sich „dabei verwundert in die Augen. So hat der liebe Gott das gemeint, dachte ich, so soll es sein.“ (In Ewigkeit, Amen)
Doch „wie soll das weitergehen?“ Mit ihm, mit ihr und mit Andreas.
Nun, auch nach Andreas Rückkehr huschen die beiden bei jeder sich bietenden Gelegenheit „kurz unter die Decke“, und Wolf fragt sich, offenbar schon im Hinblick auf eine zukünftige Tätigkeit als Autor oder Filmer: „Wie kann ich ihre Haut speichern, ihren Duft festhalten, ihr Lächeln, wenn sie atemlos ruft, kurz vorher ‚Wolf, Wolf, Wolf!!“
Dann „Sturz aus größter Höhe in die finsterste Tiefe“, Hoffnungslosigkeit angesichts der Dreierkonstellation (wie das endet hat er vorher schon im Kino bei „Jules und Jim“ gesehen, mit dem Tod nämlich, so sein damaliger Kommentar), und dann doch „wieder aufeinander gestürzt … atemlos, manches Mal ohne uns richtig auszuziehen“.
Und so geht es noch über viele, viele Tagebuchseiten weiter mit der Lust und mit dem Frust, präpubertär und kitschig, mit Phrasen und schiefen Bildern, ein dann letztlich trauriges Altherrenresümee.
Wie konnte das passieren?
Dass jemand so schreibt, wie er denkt, schreiben zu müssen – okay. Das ist auf vielen Schreibblogs die Regel, das überrascht nicht. Dass „Die freie Liebe“ aber als Literatur, als „der große Roman einer wilden, verrückten Liebe in den Zeiten der sexuellen Befreiung“ angepriesen wird, ist angesichts des dürftigen Umgangs mit Worten, der durchgängigen Stillosigkeit, mehr als verwunderlich.
Frank Göhre
Volker Hage: Die freie Liebe. Luchterhand Verlag 2015. 160 Seiten. 16,99 Euro.