Ganz und gar zeitgenössische Schelmenroman
Von Ulrich Noller
Mit einer ebenso schmerzhaften wie plastischen Gewalterfahrung beginnt Tijan Silas Debütroman „Tierchen unlimited“: „Ich floh nackt und blutend auf einem Rennrad. Das Blut floss auf Platzwunden, die ich auf den Lippen und Augenbrauen hatte, und aus meiner Nase, es sammelte sich in dunklen Zeilen auf meiner Brust. Fuhr ich über ein Schlagloch, stoben rote Tröpfchen in alle Richtungen davon, als schüttele sich ein Tier trocken, und meine Füße glitten aus den Pedalhaken. Sie kreisten beim Versuch des Wiedereinsteigens hilflos durch die Luft. Außerdem jaulte ich jedes Mal, da der Sattel den Aufprall der Laufräder wie ein Schlagkolben in den verletzten Schwellbereich meines Geschlechts leitete. Mein Penis, meine Hoden, sie hatten ihre ursprüngliche Form aufgegeben und waren zu einem dunklen Ödem verwachsen.“
Ja, okay, typisch Mann dieser Romananfang. Ein Typ in tiefer Sorge um’s Zentrum der Welt. Alles klar. Aber kein so schlechter Einstieg, oder? Zumal das Zentrum der Welt in der Szene ja nun keine allzu gute Figur macht … Jedenfalls: Grün und blau geschlagen, flieht ein junger Mann auf dem Rennrad vor wem auch immer durch die pflälzische Provinz – bis er von ein paar Rentnern im Auto aufgelesen, mit einer Fleecejacke versehen und ins nächste Krankenhaus gebracht wird. Was auch keine so angenehme Situation ist, mal vom Schmerz abgesehen, wenn man bloß eine Fleecejacke trägt und der Notarzt einen ohne Ersatzklamotten wieder wegschicken will.
Der junge Mann, so Mitte 20, ist der Erzähler von Tijan Sila. Sein Name wird nicht genannt, man darf aber davon ausgehen, dass es sich um ein Alter Ego handelt. In verschiedenen Schleifen geht’s dann um die Erinnerung und Gegenwart dieses Erzählers, um seine Abenteuer, um seine Niederlagen, um seine Geschichte, und die ähnelt der des Autors: Als Teenager kam er mit den Eltern aus Sarajewo nach Deutschland. Jetzt ist er Student in Heidelberg, nachdem er sich von der Hauptschule aus „hochgearbeitet“ hat. „Tierchen unlimited“ fußt auf zwei zeitliche Ebenen: Hier die Kindheit im belagerten Sarajewo, da das Erwachsenwerden im merkwürdigen Deutschland, samt diverser Mädchen, die auffällig oft Skinhead- bzw. Nazibrüder haben. Und klar, natürlich geht es auch, eine Zeit lang zumindest, um den hübschen Spannungsbogen mit dem Flüchtenden auf dem Fahrrad: Wie kam’s dazu, dass er nackt und mit blauen Flecken auf dem Rennrad durch die Gegend fährt? Wie wird das Ganze ausgehen? Und wie weiter?
Tijan Sila lebt in Kaiserslautern, er arbeitet als Lehrer an einer berufsfördernden Schule, hat Germanistik und Anglistik in Heidelberg studiert. Geboren wurde er 1981 in Sarajewo, 1994 floh er mit der Familie vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland. Ganz offensichtlich also, dass sein Debütroman, wie exakt auch immer, autobiographisch inspiriert ist. Hier und da folgen kleine Schwächephasen, aber insgesamt hält dieser ganz zeitgenössische Schelmenroman das Niveau seines tollen Einstiegs. Tijan Sila ist ein starker Erzähler, konzentriert und kreativ und komisch. Er zieht alles und jeden durch den Kakao, vor allem aber sich selbst. Auch deshalb: Eine echte Entdeckung, tolle Unterhaltung, großes Vergnügen.
Tijan Sila: Tierchen unlimited. Kiepenheuer & Witsch 2017. 224 Seiten. 18,00 Euro.