Lesestoff aus Südamerika
Drei sehr lesenswerte Übersetzungen von Geschichten aus Brasilien, Argentinien und Kolumbien: Neue Romane von Chico Buarque, Selva Almada und Héctor Abad.
Von Ulrich Noller
„Mein deutscher Bruder“
Als Bossa-Nova-Musiker ist Chico Buarque, geboren 1944, eine Legende; als Romancier kann man den Brasilianer noch entdecken. Zum Beispiel mit „Mein deutscher Bruder“ (S. Fischer, 19,99 Euro), seinem dritten Roman, der ins Deutsche übersetzt wurde.
Die Geschichte beginnt 1961: Nino, 17, weiß zwar, dass sein Vater lange vor seiner Geburt, Anfang der 1930er-Jahre, als Journalist in Deutschland gearbeitet hat, dass es dort einen deutschen Halbbruder gibt, war dem Jungen allerdings nicht bekannt, bis er zufällig einen alten Brief aus Berlin findet, der in der riesigen Bibliothek des Vaters aus einem Buch fällt. Man spricht (mit Nino) nicht über diese Angelegenheit, und so wird es Jahre dauern, bis der sich, auch mithilfe weiterer Dokumente, die ganze Geschichte zusammenreimen und – möglicherweise – mit seinem deutschen Bruder Kontakt aufnehmen kann.
Eine Geschichte, für die Chico Buarque ein paar kleine Stellschrauben geändert, ein wenig fiktionalisiert hat, wohl um Abstand zu gewinnen, die aber im Wesentlichen der Realität entspricht: Der Musiker hatte selbst einen unbekannten deutschen Bruder, der in der DDR lebte und sein Geld lustigerweise ebenfalls als Sänger und Entertainer verdiente. Kennenlernen konnten die beiden sich allerdings nicht mehr: Als Buarque seinen Bruder 2013 in Berlin ausfindig gemacht hatte und aufsuchen wollte, war dieser schon gestorben. Immerhin gab es aber eine Tochter, eine deutsche Nichte also. Eine bewegende, erstaunlich luftig geschriebene, streckenweise packende Geschichte – und eine, die zugleich spannende Einblicke bietet in die Jugend Buarques während der brasilianischen Diktatur in den 1960er-Jahren.
„Sengender Wind“
Ein staubtrockener Geistlicher fährt durch die Lande, zusammen mit seiner motzend pubertierenden Tochter – da denken Freunde des gehobenen Trashs natürlich sofort an Harvey Keitel, Charlotte Lewis und Roberto Rodriguez‘ Film „From Dusk Till Down“. Aber keine Sorge, in dem Roman „Sengender Wind“ (Berenberg, 20 EURO) von Selva Almada gibt’s keine bösen Überraschungen mit blutrünstigen Vampiren. Die argentinische Autorin konzentriert sich ganz aufs Diesseits, auf ihre Helden und deren Beziehungen: Reverend Pearson, der mit seiner Tochter Elena (genannt Leni) und kistenweise christlicher Erbauungslektüre durch die argentinische Pampa tourt, um Ungläubige zu missionieren, strandet dank einer
Autopanne irgendwo im Nirgendwo bei dem wortkargen Schrottplatzbetreiber Brauer und seinem Gehilfen Tapioca. Eigentlich soll’s nur bis zum Abend dauern, bis das Auto repariert ist, dann aber zieht ein Sturm auf und die unfreiwilligen Gäste müssen über Nacht bleiben. Und am nächsten Morgen ist zwischen den beiden beteiligten „Teams“ nichts mehr, wie es war.
Selva Almada, geboren 1973, hat mit ihrem Debütroman 2012 in Argentinien einen dicken Erfolg feiern dürfen – und das zu Recht: Dieses kleine, schmale Buch erzählt eine konzentrierte, dichte, klare und ausgesprochen gewitzte Geschichte. Genau genommen ist „Sengender Wind“ eher eine Novelle als ein Roman, jedenfalls ein beeindruckendes Lesevergnügen, dessen Bilder haften bleiben. Und – last, not least: ein vom Berenberg Verlag wunderbar designtes Buch.
„La Oculta“
Tolles Buch, nicht nur inhaltlich, sondern auch in Sachen Gestaltung, das gilt gleichermaßen für einen weiteren neuen Roman aus demselben Verlag: „La Oculta“ (Berenberg, 25 Euro) von Héctor Abad – einem 1958 geborenen Autor aus Kolumbien. Ana Ángel, eine ehemalige Bäckereibesitzerin aus Medellín ist tot. Antonio, Eva und Pilar, ihre drei Kinder, müssen nicht nur die Mama beerdigen, sondern auch überlegen, was nun mit La Oculta geschehen soll, der Finca der Familie in den Bergen. Eine Finca, die schon seit den Unabhängigkeitskriegen im 19. Jahrhundert im Familienbesitz ist. Damals hatten sich die Vorfahren, aus Spanien stammende Juden, auf die Seite der Kämpfer gegen die Kolonisation gestellt. Keine leichte Entscheidung also, zumal jede Menge eigene Erlebnisse und Erinnerungen mit dem kleinen Landsitz am See verbunden sind – schöne und bedrohliche Momente gleichermaßen.
Héctor Abad erzählt aus der Perspektive von Pilar, Eva und Antonio; er lässt aus ihren Berichten die Erinnerungen wach werden und rekapituliert so nicht nur die Familiengeschichte der Ángels, sondern die Geschichte des ganzen Landes – eben der Unabhängigkeit bis hin in die Gegenwart, ergänzt durch einen besonderen Blick auf die Zeit der Drogenbarone und Todesschwadronen in den 1990er Jahren. Das Ergebnis: Ein packender, raffiniert konstruierter und überhaupt ausgesprochen gescheiter Roman, nach dessen Lektüre man (nicht nur in Sachen Kolumbien) auf jeden Fall schlauer ist als zuvor.