Ohne Leidenschaft kein Leben
Die Lebenserinnerungen von Rossana Rossanda
Wie weit das alles zurückzuliegen scheint. Damals in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als man noch Briefe schrieb, erschien bei Suhrkamp ein Band mit „Stichworten zur geistigen Situation der Zeit.” Und ganz am Schluss des von Jürgen Habermas herausgegebenen Bandes war ein Brief des in jenen Jahren für die „edition suhrkamp” verantwortlichen Lektors Günther Busch veröffentlicht. Busch hatte ihn an die italienische Journalistin Rossana Rossanda adressiert. Die italienische Linke, so schrieb Busch etwas euphorisch an die von ihm geschätzte Rossanda, habe ihr „soziales Erinnerungsvermögen nicht eingebüßt oder gar selber leergefegt und deren konstitutiven Alltags- und Widerstandstraditionen seien vom Faschismus weder ausgerenkt worden noch unter seinem Terror gänzlich zerfallen.” Heute, gut dreißig Jahre später, lesen sich diese Sätze wie Zeilen aus einer längst museal gewordenen Zeit. Nichts von dem, was Busch hier in zeittypischer italophiler Verklärung schrieb, ist mehr übrig geblieben von jener ‚kämpferischen italienischen Linken‘, an der man sich nördlich der Alpen gerne die Seele wärmte. Und es war weiß Gott nicht nur der ebenso aggressive wie dumme Neo-Liberalismus eines Silvio Berlusconi, der die politische Kultur Italiens so tief umgewälzt hat. Da hatten und haben viele linke Intellektuelle, mehr noch Politiker, ihren eigenen Anteil. Auch eine so hartnäckig luzide Frau wie Rossana Rossanda ist hier nicht auszunehmen. Ihre politischen Kommentare sind in den letzten Jahren immer verbitterter gegenüber den Restbeständen einer einstmals starken und lebendigen politischen Linken geworden. Und dennoch bleibt etwas von der Bewunderung eines Günter Busch für diese italienische Publizistin. Es ist die jahrzehntelange Kontinuität der öffentlichen Einmischung, die die heute hochbetagte Rossanda immer noch zu einer singulären Erscheinung wahrscheinlich nicht nur in der politischen Kultur Italiens macht. Es ist auch ihr Stil, ihre im besten Sinne bildungsbürgerliche Kompetenz, die die Kommentare der Rossanda immer noch auszeichnen, auch wenn die Häufigkeit ihrer Veröffentlichungen natürlich inzwischen stark abgenommen hat. Mit ihrer jetzt von Maja Pflug und Friederike Hausmann sehr gut ins Deutsche übertragenen Autobiographie „Die Tochter des 20. Jahrhunderts“ präsentierte sie uns das Panorama ihres Lebens. Ob diese Erinnerungen heute im deutschen Sprachraum noch auf ein großes Interesse stoßen? Man muss es – leider – bezweifeln….
Einmischung, Einmischung
Wer glaubt, die vier in deutschen Übersetzungen vorliegenden, aber auch schon längst vergriffenen Bücher von Rossana Rossanda würden ihr ganzes publizistisches Werk repräsentieren, der irrt sich. Der irrt sich gewaltig. ‚La Rossanda’ hat zeit ihres politisch und publizistisch aktiven Lebens viel, in manchen Zeiträumen unglaublich viel, geschrieben. Regelmäßige Leser der von ihr Ende der sechziger Jahre mitgegründeten Tageszeitung „il manifesto” (ungefähr mit der taz vergleichbar ), können sich noch an Ausgaben erinnern, in denen zwei, drei von RR gezeichnete Artikel gleichzeitig erschienen. Ununterbrochen entluden sich zu bestimmten Ereignissen ganze Wellen von Kommentaren in den Spalten von il manifesto: zu den Streiks bei FIAT, zu den Regierungskrisen in Italien, zu aktuellen Diskussionen innerhalb der Frauenbewegung, zu den neuesten Entwicklungen innerhalb der westeuropäischen kommunistischen Parteien, zu den Unruhen innerhalb der realsozialistischen Systeme, zu den kurzfristigen revolutionären Umbrüchen in Chile oder Portugal und immer und immer wieder zum Terrorismus in den „anni di piombo”, den Jahren des Bleis. Und selten, sehr selten, waren ihre Beiträge in jener Zeit nur kurze, schnell geschriebene Zwischenrufe. Fast immer breiten sie sich über mehrere Spalten aus und sind gespickt voller Anspielungen, Polemiken, Metaphern und Zitaten aus einem profunden bildungsbürgerlichen Wissen und einer jahrzehntelangen Erfahrung im Umgang mit allen Finessen italienischer Politik. Worüber Rossana Rossanda auch schreibt – stets ist da eine heute in Zeiten der Politikmüdigkeit selten gewordene Leidenschaft für die Einmischung in alle Angelegenheiten der Res publica spürbar. „Ohne Leidenschaft”, schreibt sie an einer Stelle, „gibt es auch kein Leben”. Und ein Leben ohne Einmischung ist für Rossanda nicht vorstellbar. Sich leidenschaftlich für die Versprechungen der Aufklärung, für die Emanzipation der Ausgebeuteten und Unterdrückten, der Frauen und nicht zuletzt auch für die eigene zu schlagen: Das ist das politische Lebensprojekt der Rossana Rossanda.
Was treibt sie dazu, sich gut ein halbes Jahrhundert so intensiv, so ausdauernd, so schonungslos in die Angelegenheiten des politischen Lebens ihres eigenen Landes, Europas, ihrer ganzen Epoche einzumischen? Ihr Leben, hat sie einmal geschrieben, „wird skandiert von der Geschichte der anderen” und deshalb wird man auch ohne ein Wissen um diese in die öffentliche Geschichte eingravierte private Biographie die Gründe für eine starke, heute vielen fremd gewordene Leidenschaft für die Politik nicht verstehen können.
Eine bürgerliche Intellektuelle
Rossana Rossanda gehört noch der Generation an, für die Faschismus, Krieg und der Widerstand dagegen, die Resistenza, die alles politisches Denken und Handeln bestimmenden historischen Schlüsselerfahrungen sind. In dieser für das Selbstverständnis des Nachkriegsitaliens so entscheidenden Zeit wurde sie politisch sensibilisiert, hier formten sich ihre ersten Erinnerungsbilder, die nie wieder das Bewusstsein verließen. „Ich sehe die Körper der auf den Plätzen erhängten Genossen und die nach der Erschießung in Mailand aufgeschichteten Leichen noch vor mir. Ich spüre noch die Kälte, die Mühsal jener Winter, die Zweifel und die labile Hoffnung, daß all dies etwas nützen werde…Wer in jenen Jahren erwachsen wurde, der vermag die Suche nach seiner Identität nie mehr als seine Privatsache aufzufassen.”
1943, im Jahr des faschistischen Zusammenbruchs, suchte die aus bürgerlichen Kreisen des italienischen Nord-Osten um Triest stammende und schon früh entschieden antifaschistische Studentin Rossana Rossanda den ersten, noch schüchternen Kontakt zu den Kommunisten. Er wurde ihr von dem an der Mailänder Universität lehrenden Philosophieprofessor Antonio Banfi vermittelt, der in einem engen Kontakt zum kommunistischen Untergrund in Norditalien stand. Fasziniert von dem Idealismus der Kommunisten begann Rossana Rossanda damals ihre philosophischen und literarischen Studien an der Universität mit der Kuriertätigkeit zwischen verschiedenen kommunistischen Zellen im Mailänder Hinterland zu verbinden . Langsam wuchs die bürgerliche Intellektuelle Rossanda so in die Kultur des der italienischen Arbeiterbewegung hinein. Sie solidarisierte sich mit den Arbeitern, verteilte Flugblätter für sie, schrieb für sie, aber nie leugnete sie ihre Herkunft aus der norditalienischen Bourgeoisie. Der proletarische Mummenschanz, wie er gerade in der von ihr ansonsten so geschätzten westeuropäischen 68er Bewegung bis zur Lächerlichkeit von einigen Gruppen gepflegt wurde, war nicht ihre Sache. „Ich bin eine typische bürgerliche Intellektuelle, die eine kommunistische Wahl getroffen hat.”
Mit Hilfe ihres väterlichen Freundes Antonio Banfi wurden Marx und Gramsci mit der Zeit genauso selbstverständliche Orientierungsfiguren ihres Denkens wie Rosa Luxemburg, Che Guevara oder Jean Paul Sartre. Geschult in jahrzehntelanger, organisierter politischer Arbeit für die Kommunisten, intellektuell geschärft durch die ununterbrochenen Klärungsprozesse unter Genossen in den Parteigliederungen und zu einer stilistisch exzellenten Journalistin durch die publizistische Tagesarbeit in den Organen der PCI geschliffen, wurde Rossana Rossanda in den späten sechziger Jahren der intellektuelle Pol einer Gruppe innerhalb der Partei, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, „die historischen und ideologischen Inhalte des italienischen Kommunismus mit jenem neuen Verständnis von Politik und militantem Handeln zu vereinen, das 1968 deutlich geworden war.”
„il manifesto“
Die Gruppe um die Monats- und spätere Tageszeitung „il manifesto” wurde 1969 von der Massenpartei verstoßen, ohne dass sie allerdings damit auch zu einer Sekte verkümmerte. Mühsam, mit unendlich vielen Rückschlägen, Enttäuschungen, Resignationen und gegenseitigen Verletzungen, schaffte es die Gruppe um „il manifesto” mit dem Wind von ’68 im Rücken, sich als eine linke Stimme auch über die Grenzen Italiens hinaus zu profilieren. „Wir mußten uns verzweifelt freischwimmen und jeden Tag zunächst als politische Gruppe, später als Zeitungsprojekt neu mit der gesamten Realität auseinandersetzen.”
Über ihre Herausgebergenerationen und die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die seit jetzt fast drei Jahrzehnten die Tagesereignisse rund um den Globus kommentieren, ist „il manifesto” so etwas wie eine institutionalisierte Erinnerung der italienischen Linken geworden. Aus der heutigen politischen Kultur Italiens ist die besonders in Gewerkschaftskreisen und der verstreuten linken Szene des Landes gelesene Tageszeitung „il manifesto” nicht mehr wegzudenken. Da sich der Kreis um „il manifesto” auch in den Zeiten des eisigsten Ost-West-Konfliktes von keiner Seite instrumentalisieren ließ, hat er den Zusammenbruch des realen Sozialismus jedenfalls relativ gut überstanden. Als viel schwieriger erweist sich jedoch der Wechsel von der Gründergeneration der Zeitung zu neuen Redakteuren, die mit anderen politischen Erfahrungen und einer viel größer gewordenen Pluralität der Positionen ständig neu definieren müssen, was denn heute noch eine ‚linke‘, geschweige denn ‚kommunistische‘ Position auszeichnet.
Polemisch – aber mit Stil
In den Anfangsjahren bis hinein vielleicht in die achtziger Jahre hatte es da eine Rossana Rossanda viel leichter. Adressat ihrer Kommentare, Polemiken und theoretischen Einmischungen war eine Linke, die zwar in verschiedene Parteien zersplittert war, aber noch über einen großen Vorrat gemeinsam erlebter und sehr ähnlich interpretierter Geschichte verfügte. Diese Gemeinsamkeiten sind heute längst zerbrochen und auch durch Appelle nicht mehr herzustellen. Man ist zurückgeworfen auf kleine Netzwerke und muss der Überzeugungskraft der eigenen Argumente vertrauen, hinter denen nicht mehr die Autorität einer Partei oder der Enthusiasmus einer Bewegung steht. Die überragende Autorität hat Rossana Rossanda auch in den ihr nahe stehenden Kreisen längst verloren, aber selbst erbitterte Gegner zollen immer noch ihrem Stil und ihrer Leidenschaft Respekt. Dass ihre jahrzehntelangen publizistischen Einmischungen auch eine große erzieherische Funktion hatten und immer noch haben, werden auch diejenigen bekennen, die sich inzwischen von ihren politischen Positionen fortentwickelt haben. Mit einer um der Bedeutung einer lebendigen Demokratie willen leidenschaftlichen Polemikerin wie Rossana Rossanda nicht in einen zugespitzten intellektuellen Streit einzutreten, wäre aber auch fast eine Beleidigung, auf jeden Fall eine Missachtung ihres politisch-aufklärerischen Anliegens. Rossanda verlangt nicht wenig – weder von sich noch von ihren Lesern.
In den Texten der Rossana Rossanda verbindet sich ein fundiertes bürgerliches Wissen mit der marxistischen Theorie und kontinuierlich reflektierten politischen Erfahrungen innerhalb der italienischen Linken. Die Arbeit an der Dialektik von „Kontinuität und Bruch”, so der Titel eines ihrer ins Deutsche übersetzten Bücher, ist der alles zusammenhaltende rote Faden ihrer unaufhörlichen Einmischungen. Der Kompass der Geschichte, der Niederlagen genauso sensibel anzeigt wie die wenigen Erfolge, ist für Rossana Rossanda das wichtigste Instrument im Kampf für Emanzipation und Befreiung in einem emphatischen Sinne. Jahreszahlen wie 1789, 1917 und 1968, Städtenamen wie Paris, Prag, Danzig und Länder wie Chile, Spanien und Portugal sind ihr, um einen Aphorismus von Canetti zu zitieren, zum Teil des „eigenen Knochengerüstes“ geworden. Die Erinnerungen an die mit diesen Daten und Namen verbundenen historischen Ereignissen, ihren Glanz und ihre Tragik wachzuhalten, ist eine der großen Triebfedern ihrer unaufhörlichen Einmischungen in den Lauf der Zeit.
Auch für mich
Die promovierte Philologin Rossanda ist in der Renaissance ebenso zu Hause wie in den Archiven der kommunistischen Bewegung. Sie kennt sich in der modernen Literatur ebenso aus wie in den marxistischen Klassikern. Völlig selbstverständlich folgt etwa in dem Band „Anche per me” (Auch für mich) ein Essay über den Kunsthistoriker Aby Warburg einem Beitrag über die italienischen Gewerkschaften. Reflektionen über Virginia Woolf folgt eine Polemik gegen die verrottete „Classe politica” in Italien. Die Utopie des gemeinsamen ‚Wir‘ ist genauso ihr Thema wie die Realität des oft einsamen ’Ich’. Sie versteht es, an einem Tag einen gestochen scharfen Essay über die Widersprüche einer aktuellen Justizreform zu schreiben und am nächsten Tag sehr einfühlsame Gedanken anlässlich des Todes eines jungen Linken zu finden. Wer, wie sie einmal an einer Stelle geschrieben hat, die „Endlichkeit als einen großen Wert” ansieht, findet vielleicht auch leichter als andere die richtigen Worte angesichts des Todes. Die Nekrologe der Rossana Rossanda auf verstorbene Freunde und Wegbegleiter zeichnen eine empfindsame persönliche Anteilnahme aus, in der zugleich immer eine kluge Lektion der Erinnerung an gemeinsam erlebte Geschichte eingewoben ist. Dass sie das Persönliche so ernst nimmt wie das Gesellschaftliche und die Gesellschaft nicht vergisst, wenn über das Persönliche verhandelt wird, unterscheidet sie sowohl von der alten traditionellen Linken als auch von vielen der jüngeren Feministinnen.
Die in linken Kreisen verbreitete Unsitte, historische Errungenschaften zu leugnen oder zu bagatellisieren, teilt Rossana Rossanda nicht. Auch in der Diskussion um Frauenemanzipation erinnert sie zunächst immer an die bereits errungenen Erfolge. „Seit der Nachkriegszeit ist die innere, die rechtliche und die wirtschaftliche Emanzipation, die alle Frauen betrifft, nicht mehr zum Stillstand gekommen…Die Bewegungen der siebziger Jahren , und damit auch die Frauenbewegung haben die Forderung nach einer Neugestaltung der gesellschaftlichen Bedürfnisse, der Beziehungen zwischen den Menschen, nach einer Veränderung der Sprache und damit der politischen Ideen aufgeworfen.”
In den Texten der Rossana Rossanda scheint noch eine Ahnung oder wenigstens ein Wunsch von einem Politikbegriff auf, der heute immer mehr in Spezialisierungen und Partikularismen zu zerfallen droht: die Verbindung von Subjektivität und öffentlicher Einmischung, von Sensibilität gegenüber neuen Bewegungen in der Gesellschaft und die Erinnerung an die alten, substanziellen Werte der Politik. „Ob und wie ist es möglich, die Politik aus den massiven Abstraktionszwängen zu lösen, ihr Unmittelbarkeit und Menschlichkeit zurückzugeben, ohne daß sie Kommunikationsfähigkeit, Planungsfähigkeit, kollektivem Atem einbüßt; ohne daß sie sich im Zirkel partikularistischer Lebensstile atomisert.” Geschrieben Ende der siebziger Jahre treffen diese Zeilen mitten hinein in die Debatten der neunziger Jahre. In einer Zeit, in der die Regulierung der öffentlichen Angelegenheiten immer komplizierter und undurchschaubarer erscheint, wagt Rossanda fast naiv an die klassischen Gehalte der Politik zu erinnern. „Das erste Wort der Politik ist unstreitig Politik. Was meint es? Es kommt vom griechischen Polis, was Stadt bedeutet. Politik bezeichnet die Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten der Stadt, des organisierten Gemeinwesens…Politik ist also der Ort, an dem über die öffentlichen Angelegenheiten verhandelt und befunden wird.”
Wenn Politik so einfach ist, warum mischen wir uns dort denn nicht mehr ein? Stellen sich die Leserinnen und Leser der Kommentare von Rossana Rossanda diese Frage, dann sieht die Autorin den Sinn ihres Schreibens erfüllt.
Sie polemisiert seit den siebziger Jahren unentwegt gegen die „dunklen Mächte” der italienischen Demokratie, greift scharf die verantwortlichen Politiker an und sucht gleichzeitig das kontroverse Gespräch mit den Vertretern des „bewaffneten Kampfes”. Sie will sie zurückgewinnen für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung, die ja in den siebziger Jahren auch einige Erfolge aufweisen konnte (s. Scheidungsreferendum, Legalisierung der Abtreibung etc.). Ob sich diese leidenschaftliche Anstrengung der Rossana Rossanda letztlich gelohnt hat, ist zweifelhaft.
„In der Zerstörung der Formen”, wie das Schlusskapitel ihres vielleicht besten Buches „Vergebliche Reise” (1982) überschrieben ist, gewinnt der Leser einen nachhaltigen Eindruck von der Art, wie Rossanda komplizierte gesellschaftliche Prozesse in Bilder zu fassen versteht, souverän über die bürgerlichen Kulturtraditionen verfügend, Partei für die Arbeiter zu ergreifen, der in der modischen Linken verpönten Rationalität der Anstrengung des Begriffes treu zu bleiben und sich gleichzeitig zu ihren Zweifeln, Ratlosigkeiten und Resignationen zu bekennen. Politik ist ein Handwerk, das „wache und geschickte Bewegen im Gelände der Macht” (Peter Brückner) erfordert, aber immer auch eine „education sentimentale” ist, eine Erziehung des Gefühls der „Weg durch Leiden und Leidenschaften, durch Freundschaften und Kontroversen, durch Vertrauen und Abschied.”
Zerstörung der Formen
Wie Rossanda im Epilog ihres Spanien-Buches von der depressiven Krankheit eines Freundes her eine gestochene scharfe Momentaufnahme gesellschaftlicher Zerfallsprozesse entfaltet, ist ein Beispiel jenes „Denken mit der Sensibilität” (Fernando Pessoa), das sie so sehr aus der Vielzahl politischer Kommentatoren nicht nur in Italien herausragen lässt. „An den langen Nachmittagen, die ich in seiner Nähe verbrachte, ohne daß er mich wahrzunehmen vermocht hätte, so sehr dröhnte in ihm der Schmerz dieser Auflösung, glaubte ich an einem Einzelnen diese Krankheit aller zu erkennen. Und selbstverständlich dachte ich, daß ein Mensch sich aus dieser verhängnisvollen Destrukturierung“ würde retten können, und sei es in den Tod. Eine Gesellschaft allerdings vermag dies keinesfalls. Ihre Destrukturierung ist kein Naturprozeß, den ein ’natürliches Ende‘ beschließt. Der Verlust der Bedeutung, der Zerfall in lauter Fragmente, der Kreislauf der Enttäuschung, das Farblos-Werden der Aktionen machen eine Gesellschaft ziel- und steuerlos, stoßen sie in Verzweiflung und Überdruß, erzeugen Gleichgültigkeit, Selbstgestaltungsschwäche und werfen jeden Einzelnen auf seine Ohnmacht zurück. Das ist die große Depression, nicht die ökonomische. Das ist die Krankheit der siebziger Jahre, von denen die Historiker wahrscheinlich einmal sagen werden, daß die Wirtschaft florierte, die Sachen gemehrt wurden und nur die Menschen zerfielen.”
Mit ihren Themen, ihrem Stil, ihren Idealen erweist sich Rossana Rossanda tatsächlich als eine Frau von gestern, als eine „Tochter des 20. Jahrhunderts“. Verbitterung spürt man in ihren Erinnerungen nie, wohl aber gelegentlich Wehmut. Rossanda hat ein Beispiel gegeben. Und das zählt. Macht Mut, sich weiter einzumischen. Für Andere, ma anche per me, auch für mich.
Carl Wilhelm Macke
Rossana Rossanda: Die Tochter des 20. Jahrhunderts. Aus dem Italienischen von Maja Pflug und Friederike Hausmann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2007, 476 S.