Geschrieben am 12. März 2011 von für Bücher, Crimemag

Ruth Landshoff-Yorck: In den Tiefen der Hölle

Kriminalliteratur hat viele Inkarnationen. „Krimi“ ist nur eine davon. Vermutlich nicht die Wichtigste. Matthias Penzel hat sich mit einem Text beschäftigt, über den man sagen kann, dass er Kriminalliteratur ist.

Aufzeichnungen aus einer blutlosen Zeit

Ob dies nun ein Krimi ist oder nicht: Auch nach 230 Seiten plus Nachwort ist es nicht ganz klar, auch mehr als fünfzig Jahre nach seiner Entstehung ist nicht eindeutig zu beweisen, was für ein corpus delicti hier vorliegt. »In den Tiefen der Hölle« ist androgyn. Es gibt Leichen; die erste gleich nach den ersten Absätzen, splitterfasernackt, auch die zweite in einem Park, „in ihrem Blute schwimmend“, und bei der dritten – einer seltsam unbekannten englischen Adligem – war die Halsschlagader mit großer Sorgfalt aufgeschnitten worden, das Blut fast vollständig ausgelaufen. Klingt wie ein Krimi. Sieht auch so aus. Nur liest es sich, nur riecht es anders. Es gibt Opfer von grausamen Gewaltverbrechen, zwangsläufig also – einen? – Mörder, es gibt Motive, es muss Motive geben, eine Art Motiv, eine Motivation, egal von welchen Dämonen besessen. Und doch ist das Buch, um das es hier geht, kein Krimi nach bewährtem Muster. »In den Tiefen der Hölle«, verfasst von der nicht als Krimi-Autorin bekannten Ruth Landshoff-Yorck, ist ein Buch aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt.

In den Tiefen der Hölle

Die Opfer sind Frauen, offenbar nicht nur kaltblütig, sondern geradezu mit akribischer Emotionslosigkeit verstümmelt. Minutiös geschildert. In den Polizeiberichten, die der Psychiater Dr. Lorme in separaten Aktendeckeln aufbewahrt, weggeschlossen und aufgebahrt wie in einer Leichenhalle. Die Berichte sind weit weg von Action oder Thriller, ihre Geschichte, das was bleibt, nicht nur leblos und blutlos, sondern auch so sehr ohne Sinn, dass der Docteur lieber räsoniert, wie er sich zur Ruhe hätte setzen können, sich mit seiner Schwester in der Provence arrangieren, das Haus in der Bretagne beziehen. Wie in einem Krimi – fand auch der das Buch begutachtende Alfred Andersch – bewegt sich die Handlung. Die Opfer auf den Fotografien in hartem Schwarz auf Weiß. Mausetot. Sie sind so tot, wie es alle Toten vor ihnen waren, genauso wie die Rhododendronbüsche exakt so aussehen und so blühen wie alle Rhododendronbüsche vor ihnen im Bois de Vincennes. Genauso wie die Eichen aussehen und stehen wie tausend Jahre zuvor.

Und doch ist es eine andere Zeit. Nichts ist so, wie es war. Nach dem „Tausendjährigen Reich“. Wir befinden uns auf in Krimis eher selten abgegrasten Terrain. Der Ort ist Paris, seine Parks. Eigentlich malerisch. Die Toten wissen es nicht, viele Franzosen wollen nicht recht daran denken, und die Eichen wissen es nicht: Doch wie kalte Asche weht es zwischen den Zeilen: Die Welt ist nicht mehr so, wie sie vorher war.

Das ist schon einmal eine der Ingredienzen, die »In den Tiefen der Hölle« so verblüffend erklingen lässt. Hinzu kommen die von einer Poetin wahrgenommenen Details von Schönheit und Grausamkeit, von menschlichem Makel, zwischenmenschlichen Beziehungen wie aus früherem Jahrhundert, ein Dior-Kleid, Baskenmützen, französische Hierarchien und laissez-faire. Doch man – jede Figur auf ihre Weise – kann sich dagegen wappnen, wie man will: Die Narben der vergangenen Jahre sind der Autorin so tief in die Seele geritzt worden, dass ihr Blick auf Paris mit seinen vulgären Amerikanern und manierlichen Engländern, Armen und Reichen nicht so weitermachen kann wie zuvor. Für Andersch, der das Buch mehreren Verlagen anpries, die es allesamt abgelehnt haben, war das zweite tragende Element die Psychoanalyse. Wesentlicher an dem Tenor, wesentlicher als Krimi-Elemente oder Rodion Raskolnikovs Höllenqualen, scheint mir die Persönlichkeit von Ruth Landshoff-Yorck.

Ruth Landshoff-Yorck

Vor »In den Tiefen der Hölle« hatte sie Gedichte veröffentlicht, Feuilletons, Porträts über André Gide, Charlie Chaplin, über Marlene Dietrich auch einen ganzen Roman. Sie war schon als Kind im Garten Thomas Mann und anderen von ihrem Onkel Samuel Fischer mitgebrachten Persönlichkeiten begegnet, in Murnaus »Nosferatu« aufgetreten. Ja, man kann sagen, mit einer Opernsängerin als Mutter und einem jüdischen Vater war ihr in Berlin alles Aufregende des frühen 20. Jahrhunderts in die Wiege gelegt worden; dazu ein athletischer Körper, schwarzes Haar – also alles, wofür noch so gesittete Herren heute Jumbo-Jets entführen würden. Im Berlin von Lili Marlene mit Bubikopf und Motorrad, androgyn und mit allem – den vielen und dem einen – flirtend, anscheinend auch im Nachtleben, kaum zu stoppen in den Lichtern und Schatten der Großstadt, hat sie sich später mit Sartre und Enzensberger ausgetauscht, mit anonymen Kollaborateuren – D.S. Jennings und D. Malcolmson – 1939 den Roman The Man who Killed Hitler veröffentlicht, auch ein Buch über Schlepper (Sixty to Go: A Novel of the Riviera Underground). Sie hatte „exemplarisch schöne Augen und eine Haut wie Alabaster“, wie Georg Zivier in »Das Romanische Cafe« erinnert, „Psychosen und Selbstmordversuche säumen den Weg des Mädchens“.

Turbulenzen

Ruth Landshoff-Yorck hat, und das treibt einem bei der Lektüre insbesondere ihres Werks nach 1945, die Tränen in die Augen, sie hat Venedig und Paris gesehen, sie hat Celebrities und Trittbrettfahrer von Nahem betrachtet, sie blieb nach der Flucht vor den Nazis bis zu ihrem Tod in New York. Nach dem Krieg schrieb sie – wie Vicki Baum – auf Englisch weiter, und sie hat ihre Sinne geschärft. Mehr Glanz und Glitter hat sie genossen als die meisten von uns, aber auch in düstere Schluchten und Löcher geblickt. Eine Karriere, wie sie andere deutsche Autoren hingelegt haben – Männer mit und ohne, oft ja tatsächlich mit Vergangenheit in der Waffen-SS oder NSDAP – hat sie nie gemacht. Und wenn man sieht, wie sie mit Worten und Wissen gearbeitet hat, wie sie das Tanzen genauso wenig vergessen hat wie die schiere Schönheit, aber auch das erschreckende Grauen, selbst nach 1945, wenn man das sieht und liest, dann scheint das auch ganz logisch, dass sie im Literaturbetrieb keine Karriere gemacht hat. Stattdessen hat sie so geschrieben, dass es einen so tief berührt, dass man ihre Bücher nicht weglesen kann wie doch die meisten Krimis. Damit meine ich nicht, dass »In den Tiefen der Hölle« anderen Krimis überlegen ist: Es ist nur eben sehr anders. Mit weniger Tempo, dafür umso heftigeren Turbulenzen.

Matthias Penzel

Herzlichen Dank an den Aviva-Verlag, der uns freundlicherweise die beiden Fotografien von Ruth Landshoff-Yorck zur Verfügung gestellt hat.
Am 17. März 2011 findet im Rahmen der Leipziger Buchmesse eine Lesung aus „In den Tiefen der Hölle“ statt. Näheres dazu erfahren Sie hier.

Ruth Landshoff-Yorck: In den Tiefen der Hölle. Erstausgabe aus dem Nachlass. Hrsg. und mit einem Nachwort von Walter Fähnders. Berlin: AvivA Verlag 2010. 269 Seiten. 19,50 Euro.
Die Vielen und der Eine. Roman. Herausgegeben von Walter Fähnders. Berlin: AvivA Verlag 2001. 192 Seiten. 16,40 Euro.
Die Schatzsucher von Venedig. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Walter Fähnders. Berlin: AvivA Verlag 2004. 166 Seiten. 16,50 Euro.
Roman einer Tänzerin. Roman. Berlin: AvivA Verlag2002 u. 2005. 157 Seiten. 16,90 Euro.
(Mitarbeit an:) The Man Who Killed Hitler, auszugsweise Übersetzung mit Kommentar in: Ruth Landshoff-Yorck, Karl Otten, Philipp Keller und andere. Literatur zwischen Wilhelminismus und Nachkriegszeit. Hrsg. Gregor Ackermann, Walter Fähnders, Werner Jung. Berlin: Weidler 2003 (zugleich: JUNI, Heft 35/36).
Das Wehrhafte Mädchen, Gedichte (Privatdruck) 1929.
Sixty to Go, Roman. Julian Messner, New York 1944.
Lili Marlene, an Intimate Diary, Roman 1945.
So Cold the Night, Roman 1948.
Das Ungeheuer Zärtlichkeit, Erzählungen 1952.
Klatsch, Ruhm und kleine Feuer. Biographische Impressionen. Feuilletons. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 1963.

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