Geschrieben am 3. Mai 2016 von für Bücher, Litmag, News

Sachbuch: Josef H. Reichholf: Evolution. Eine kurze Geschichte von Mensch und Natur

Reichholf_EvolutionDie Biologie bricht eine Lanze für die Menschlichkeit

–Josef H. Reichholf erzählt von der Evolution, dem Wunder der Feder und dem Krieg als Vater aller Dinge. Von Achim Stanislawski.

Eine der besten Eisbrechergeschichten, die garantiert auf jeder Party mit vielen fremden Gästen gut ankommt, kann man aus einem Buch des Zoologen und Sachbuchautoren Josef H. Reichholf stibitzen: Es ist die Geschichte von der Entstehung der sesshaften Kultur (und damit auch mittelbar unserer modernen Kulturen) aus dem alten Brauch des Bierbrauens. In „Warum die Menschen sesshaft wurden“ beschreibt Reichholf eine Theorie, nach der die Kultivierung des Getreides von umherziehenden Nomaden begonnen wurde. Da die Urgetreidearten mit Schalen versehen waren und sich nur unter äußerster Mühe Brot aus ihnen gewinnen ließ, müssen die umherziehenden Menschen, so Reichholf, das Getreide nicht zum Brotbacken, sondern eben zur Produktion von Alkohol angebaut haben. Einmal im Jahr kamen sie während ihrer Wanderung an eine Stelle, an der sie zuvor Saat ausgebracht hatten. Sie ernteten das Getreide, zerkauten die schwerverdaulichen Ähren, spuckten die Masse in einen Wasserbehälter und warteten dann ab, bis die Bakterien aus ihrem Mund die stärkehaltige Plörre zu einem alkoholischen Getränk vergoren hatten. Erst durch das Brauen dieses Urbiers, so das Argument, hat der Mensch über Generationen hinweg dann eine Pflanze gezüchtet, die schließlich zu Brot verarbeitet werden konnte. Das Sesshafte Leben ist ein Spin-Off, eine Umfunktionierung. Unsere Kultur (das Wort kommt von „Anbauen“) ist also aus der Lust unserer Vorfahren auf ein ordentliches Bier entstanden.

In seinen zahlreichen zu solchen und ähnlichen Themen hat Reichholf bewiesen, dass er wie kaum ein anderer Sachbuchautor vermag, kenntnisreich und unterhaltsam über die Verbindungslinien zwischen Natur- und Kulturgeschichte zu schreiben. Das macht den sympathischen Bayern zu einer Art deutschen Jared Diamond – auch wenn er nicht mit allen Thesen Diamonds aus dessen Bestsellern „Arm und Reich“ und „Vermächtnis“ übereinstimmen mag. Reichholfs Bücher sind ein Fest für Menschen, die neugierig geblieben sind auf die Welt abseits unserer zersiedelten Landschaften, begradigter Flussläufe und jener monotonen, biologisch verarmten Anbauflächen der industriellen Agrarkonzerne.

Deshalb kann es für hartgesottene Fans das jüngst beim Hanser Verlag erschienene Buch „Evolution. Eine kurze Geschichte von Mensch und Natur“ zunächst einmal ein leichte Enttäuschung sein. Wer auf eine große Abhandlung über die Evolutionstheorie seit Comte de Buffon, über Lamarck, Darwin und Haeckel bis Dawkins gehofft hatte, hält nun stattdessen ein sich an jugendliche Leser wendendes Desiderat seiner früheren Bücher in den Händen.  Aber dieser erste Eindruck verfliegt sofort, wenn man das von Johann Brandstetter wunderschön bebilderte Buch aufschlägt.

Evolutionstheorie wider den Rassismus

Das in drei Teile gegliederte Buch beginnt mit einer Übersicht über die Entstehung des modernen Menschen, seiner Ausbreitung über die Kontinente und den körperlichen Veränderungen, die er im Laufe seiner Evolution durchgemacht hat.

Reichholf erzählt die lange, alte Geschichte des „merkwürdigen Wesens“ namens Mensch mit dem klaren pädagogischen Ziel, endlich den scheinbar immer noch weitverbreiteten Vulgärdarwinismus (wenn man ihn überhaupt so nennen darf) und sein tendenziöses Verständnis von „evolutionärer Fortschrittlichkeit“ und der „Überlegenheit“ einer bestimmten Kultur oder „menschlichen Rasse“ auszumerzen.

Er benutzt dazu die gesamte Klaviatur des biologischen, anthropologischen und geologischen Wissens. In diesem Paradigma kann sich das kleinste Detail wie die Form des Schädels oder die Länge des Oberschenkelknochens als Spur zu globalen, im wahrsten Sinne erderschütternden Zusammenhänge erweisen. Denn hier ist alles mit allem Verbunden. Diese einfache Wahrheit gilt  es sich (auch aus pädagogischen Erwägungen)in vollen Umfang vor Augen zu führen. Reichholf wird bei aller Detailversessenheit in seiner Schilderung über die Verschiebung der Kontinentalplatten, die Abfolge der Erdzeitalter und die Funktionsweise der Zelle nie müde immer wieder auf den gemeinsamen Ursprung allen Lebens und spezifisch den aller Menschen zu verweisen. Der Homo sapiens zog einst aus Afrika aus, um sich auf der Erde zu verbreiten – und verdrängte auf seinem Weg andere Menscharten wie den Neandertaler, den Denisova-Mensch oder den Homo floresiensis im Kampf um Ressourcen. Das Erbe jenes „inneren Afrikas“, wie es Jean Paul freilich mit etwas anders gearteter Konnotation benannte, ist in jedem Homo sapiens noch immer aktiv. Die lange Geschichte der Evolution hat unsere Körper und Verhaltensweisen auf eine Weise geformt, die wir uns selbst nur äußert selten klarmachen. Immer noch reagieren wir oft feindselig auf Menschen, die zu einem anderen „Stamm“, „Volk“, „Kultur“ gerechnet werden. Immer noch haben wir mitten im Informationszeitalter die zentralen Einsichten in die Naturgeschichte unserer selbst nicht konsequent umsetzen können. Noch immer ist die Bezeichnung Homo sapiens, („weiser Mensch“), die Linné uns einst verlieh, eher ein Versprechen auf die Zukunft als eine zutreffende Beschreibung.

Schönheit einer katastrophischen Kraft

Im zweiten Teil seines Buches widmet sich der Autor der Evolution von Flora und Fauna. Hier kommt nun wieder der begeisterte Zoologe in Reichholf zum Vorschein, wenn er über die (Selbst-)Domestizierung des Hundes oder die wunderbare Variation unter den heimischen Finkenarten, die die berühmten Darwinfinken in Punkto Schönheit locker in den Schatten stellt, schreibt. Die Kapitel über die Selektion von bebänderten Schnecken durch die Bejagung durch Drosseln, die Erklärungen über die Punkte der Marienkäfer oder die allmähliche Transformation eines dem Vielfraß ähnelnden Tieres in unseren heutigen Blauwal sind erfüllt mit jener staunenden Begeisterung für die kleinen bis kleinsten Lebensformen, die auch andere große Zoologen wie Jean-Henri Fabre oder den bekanntlich in Regenwürmer vernarrten Darwin auszeichnen. Der Fächer der natürlichen Formen prangt mit seiner Pracht, versetzt uns in Erstaunen mit seiner Schönheit und erweckt gleichzeitig einen ungeahnten Horror in uns. Denn diese verspielte Schönheit setzte sich gegen Hekatomben an ausgelöschten Arten im katastrophischen Lauf der Evolution durch.

Doch was gibt es da nicht alles zu erzählen, über den Golfstrom und seine Wirkung auf das europäische Klima, über das von Meteoriten aus dem All zur Erde getragen Wasser, das das Leben überhaupt erst möglich gemacht hat, über das Driften der Kontinentalplatten und den Unterschied zwischen den im späteren Australien entstandenen Singvögel und ihre südamerikanischen Cousins, den Schreivögel. Das vielleicht schon ein wenig zu oft benutze Buzzword vom Wunder der Natur, Reichholf zeichnet es in diesem zweiten Teil seines Buches liebevoll nach. Ob er nun von der Lunge der Dinosaurier oder der Entstehung der Vogelfeder berichtet, Reichholf versteht es hier wie in seinen besten Büchern, den Leser immer wieder aufs Neue zu begeistern – bleibt dabei aber stets nüchterne Forscher. Den modernen Hang zur Romantisierung einer uns heute zahm erscheinenden Natur teilt er nicht.

Wo so manche ökologische Bewegungen das Idealbild einer in harmonischen Kreisläufen, quasi ohne den Menschen selbstgenügsam funktionierenden Natur zeichnet, weist Reichholf schonungslos auf die in Perioden des Massensterbens gegliederte Geschichte des Lebens auf unserer Erde hin: „Alles fließt, alles ändert sich. Diese Erkenntnis dämmerte bereits den Denkern im alten Griechenland vor mehr als 2000 Jahren. Doch noch immer fällt es uns schwer zu akzeptieren, dass es keinen Zustand von Dauer geben kann.“ (S. 178)

Krieg als Vater aller Dinge und das Internet

Jener alte Denker Heraklit, auf dessen panta rhei das obige Zitat anspielt, liefert Reichholf noch ein weiteres Schlagwort, welches den dritten Teil seines Buches durchzieht. Hier erklärt er auf engem Raum die Entwicklung menschlicher Kultur und Technologie aus der distanzierten Draufsicht eines Evolutionsbiologen. Er kommt dabei zu dem vorläufigen Ergebnis, dass alle Menschen ihrer Anlagen nach zwar sehr eng verwandt sind, jedoch auch, dass die Kulturen sich durch Sprache und Technik stark voneinander differenziert haben und daher ihr historisches Miteinander und insbesondere der technische Fortschritt von kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt wurden. Der Mensch ist nicht nur die wohl erfolgreichste, sondern auch die bei Weitem kriegeristische aller bisher bekannten Arten.

Heraklits Diktum vom Krieg als „Vater aller Dinge“, treffe global gesehen, so Reichholf, durchaus zu, weil sich viele Schlüsseltechnologien der Moderne als Spin-Off von Forschungen im Militärbereich entwickelt haben. Und tatsächlich wird unsere Geschichtsschreibung durch Kriege gegliedert und von Siegern geschrieben (darin ähnelt sie der Evolutionsgeschichte, die die Biologie schreibt). Diese harte Schlussfolgerung ziemlich gegen Ende des Buches wirkt niederschmetternd, gerade weil sie mit dem betont nüchternen Tonfall eines so bewanderten Wissenschaftlers daherkommt. Zwar erwähnt Reichholf im gleichen Kapitel auch die ungeheuere Wichtigkeit der Kooperation für alle menschlichen Gemeinschaftsformen, warnt aber gleichzeitig eindringlich vor einem möglichen Rückfall in kriegerische Zustände. Tribalistisch organisierte Gemeinschaften, die sich selbst über eine Abgrenzung von anderen Sprachen, kulturellen Institutionen und religiösen Vorstellungen definieren, sind noch immer allgegenwärtig und es ist nicht klar, ob die Menschheit sich der Einsicht unseres gemeinsamen biologischen Ursprungs einmal vollständig bedienen wird. Der alte Vater aller Dinge, von dem viele geglaubt haben, er könnte bald endgültig begraben werden, kann jederzeit wieder sein Haupt erheben.

Als silbernen Streifen am Horizont sieht Reichholf (trotz allem möchte man fast sagen) das Internet und sein ungebrochenen aufklärerisches Potenzial. Zwar ist auch diese Technologie aus der Militärforschung hervorgegangen, zwar ist auch der virtuelle Freiraum des Internets akut bedroht, doch Reichholf hat als Wissenschaftler den Langmut, auf eine sich erst in ferner Zukunft einstellende Entwicklung zu setzen. Er weiß, die modernen Naturwissenschaften verfügen über die besseren Argumente und das konsistentere Bild vom Menschen und seiner Umwelt. Deshalb baut er darauf, dass es sich durchsetzen wird: mitsamt seiner Implikationen. Nur wenn wir uns dessen bewusst sind, wozu der Mensch – der „Zerstörer von Welten“, wie Frank Oppenheimer einmal gesagt hat – im Schlechten und im Gute in der Lage ist, können wir verhindern, dass wir zur nächsten großen Naturkatastrophe werde. Diese Aussicht mutet Reichholf seinen jungen (und älteren) Leser zu, indem er auf ihre Einsicht baut.

Die Zukunft gehört, ließe sich sagen, den digital Natives aller Länder, die Bücher wie dieses lesen.

Achim Stanislawski

Josef H. Reichholf: Evolution. Eine kurze Geschichte von Mensch und Natur. Mit Illustrationen von Johann Brandstetter. Hanser Verlag 2016. 240 Seiten. 22,90 Euro.

Tags :