Fliegende Fäuste
Solch ein Buch über Kampfsport hat es seit Joyce Carol Oates (On Boxing, 1987) nicht mehr gegeben. Die Philosophiestudentin Kerry Howley taucht tief in die Welt der Mixed Martial Arts und schreibt einen großen Essay. Alf Mayer ist schwer beeindruckt.
Kerry Howley geht in ihrem wunderbar riskanten Essay „Geworfen“ sogar mit noch mehr Einsatz auf die Matte – in literarischer, philosophischer wie auch kampftechnischer Hinsicht. Ihr Ring ist ein Achteck, es ist das Octagon der Käfigkämpfer. Hierzulande „Gemischte Kampfkünste“ genannt und weithin verachtet und verfemt, ist es Kennern als „Mixed Martial Arts“ (kurz MMA) bekannt. Der Vorsitzende des Sportausschusses des Bundestages weigerte sich 2009 diese Kampfart als Sport zu bezeichnen, verglich sie mit den „Gladiatorenkämpfen im alten Rom zu Zeiten der Christenverfolgung“. Der Kabarettist und Boxmoderator Werner Schneyder sprach gar von „perversem Wahnsinn, der verboten gehört“. 2010 untersagte die Bayerische Landeszentrale für neue Medien (BLM) die Fernsehausstrahlung solcher Kämpfe, erst 2014 hob das Verwaltungsgericht die Zensur von Ultimate Fighting in deutschen TV-Programmen auf.
Beim MMA darf anders als bei den sonstigen Vollkontaktsportarten auch auf dem Boden geschlagen und (eingeschränkt) getreten werden. Boxen, Kickboxen, Ringen, Judo, brasilianisches Jiu-Jitsu, Karate, Taekwondo, Muay Thai, Sambo sowie Techniken aus weiteren Kampfkünsten gehören zum Repertoire eines Ultimate Fighters. Da wenden sich viele mit Grausen. Oder sensorischer Überforderung.
Heidergger’sche Geworfenheit und viel Gemetzel
Die amerikanische Philosophiestudentin Kerry Howley geriet zufällig in den Dunstkreis der Käfig-Fighter, als sie in Des Moines, Iowa, eine Konferenz über Phänomenologie besuchte und von den Ausführungen eines Professors zur Husserl’schen Intentionalität gelangweilt, aus dem Tagungszentrum schlendernd an eine Tür geriet mit der Aufschrift: MIDWEST CAGE CHAMPIONSHIP. Das interessierte sie insoweit als „eine ehrlichere Form von Gemetzel, als etwas, an dem die Theorien zerfleischenden und Logik verstümmelnden Akademiker, die ich gerade verlassen hatte, nie teilnehmen würden“.
So begann Kerry Howleys Reise in ein seltsames Territorium, uns gleich mehrfach fremd. Die Essayistin Howley, die als Journalistin über den philippinischen Boxer Emanuel Pacquiao ebenso schreibt wie über die Großwildjägerin Rebecca Francis, die sie sogar zur Jagd nach Südafrika begleitete, fordert mit ihrem Buch „Geworfen“ nicht nur unsere Haltung gegenüber einem stigmatisierten Sport heraus, sondern auch die Konventionen der Sachliteratur. „Geworfen“ ist ein Debütbuch, es beschreibt jene drei Jahre, die Howley ganz nah an den Kampfsportlern und am Käfig verbracht hat. Es ist ein Hybrid aus Sportreportage, Memoiren und tragik-komischem philosophischem Traktat über die Suche nach Transzendenz, aufgezeichnet von einem semifiktionalen Selbst, von der Studentin Kit.
Das bringt einen als Leser öfter ganz schön aus dem Gleichgewicht, der scheinbar simple Titel „Geworfen“ gewinnt immer mehr an Mehrdeutigkeit. Der Originaltitel „Thrown“ transportiert dieses in vielfacher Hinsicht auf die Matte geschmettert werden noch etwas mehr. Die Heidergger’sche Geworfenheit meint das bittere Gefühl, ohne Vorbereitung oder Zustimmung in die Welt geworfen worden zu sein. Das englische Wort dafür ist throwness.
Wenn das nicht Existentialismus ist
Kit folgt zwei realen Kämpfern, dem blumenkohlohrigen Veteran Sean Huffman, der seinen Kampf-Zenit bereits überschritten hat und schon oft verlor, aber noch nie k.o gegangen ist. Der andere ist Erik Koch, ein federgewichtsleichter, ehrgeiziger Aufsteiger mit großer Zukunft vor sich. Kit verbringt viel Zeit mit ihnen, in Sportclubs, in Hotels, in ihren kleinen Apartments, wo sie für Stunden Videogames spielen. Kit ist dort lang genug, um sinnlich zu erfahren, wie viel Lebenszeit eines Kämpfers aus stumpfer Wiederholung und dumpfem Schmerz besteht, um zu verstehen, warum junge Männer im Ring so bereitwillig Verletzungen riskieren, warum das Octagon als Rettungsring und nicht als Ort der Ausbeutung verstanden wird, warum man sich einem Sport verschreibt, bei dem die eigene Karriere binnen Sekunden vorbei sein kann. Wo ein Kämpfer in den Ring steigt, um buchstäblich die eigene Haut, die eigenen Knochen, Gesundheit und Kampfwillen, einfach das ganze Produkt jahrelangen Trainings und vieler Mühen und Entbehrungen für einen kurzen Moment höchster Gefahr und Ekstase zu riskieren. Wenn das nicht Existentialismus ist.
Den Augenblick der Wahrheit (Il momento della verità) nannte Franceso Rosi seinen Film über einen Stierkämpfer. Der Westernregisseur Budd Boetticher, der sich in jungen Jahren in Mexiko zum Matador ausbilden ließ, vom Stierkampf fasziniert und mit dem Torero Carlos Arruza befreundet war, ruinierte sich für seine Obsession, schlug dafür viele Prestigeprojekte aus. Über sieben Jahre zog sich sein Filmprojekt „Arruza“ (1971), es geriet zur Katastrophe, trieb ihn in Bankrott, Scheidung und Irrenhaus. Zu seiner Ranch aber gehörte bis zuletzt eine Arena.
Die ekstatische Erfahrung zurückgebracht
Kit findet eine spielerische Versunkenheit bei manchen Kämpfern, andere Männer verschwenden keinen Gedanken daran, bei Spektakeln im Käfig aufzutreten, dennoch trainieren sie hart, sieben Nächte die Woche, zwei Stunden pro Abend, mehrere Jahre lang. Jahrelang sind sie verschorft vom Beton, ein Zustand, den man als „zerkaut und ausgespuckt“ bezeichnen könnte. Es ist die „frühe Kellerphase“ eines Kämpfers, in der er die Techniken erlernt und wieder und wieder den Fußboden küsst. Kit schaut hin, denkt nach, schaut ganz nah hin. Will verstehen, was sie da beobachtet und erfährt. Bis ins Detail findet sie oft jene Beschreibungen widergespiegelt, die sie aus den Schriften von Schopenhauer, Nietzsche und Artaud kennt, in denen ein verstörendes – oftmals gewalttätiges – Ritual alle Sinne um ein Vielfaches schärft, als sei der schwerfällige, abgestumpfte Körper für einen Augenblick in eine Stimmgabel verwandelt worden – „zutiefst empfänglich für, wie Schopenhauer es ausdrückte, Empfindungen fein und flüchtig. Einige haben dieses Gefühl Ekstase genannt.“
Kit fühlt sich immer mehr diesen vorsintflutlichen Riten verbunden, die dem modernen Menschen nicht länger zugänglich sind, und sie denkt: „Dieses Schauspielt, was immer es ist, hat die ekstatische Erfahrung zurück in die Welt gebracht.“ Sie versucht, diesen Daseinszustand einzufangen und zu beschreiben. Sie sieht es als ihre Aufgabe, „den Abstand zwischen Kämpfer und dem Universum zu verringern“ und erkennt, dass dies ein unendliches Bemühen werden wird. Denn ein Kampfschauspiel findet in einem Raum jenseits des Denkens und Schreibens statt, einem geschriebenen Text bleibt es weitgehend unzugänglich und verliert dabei – obwohl das einzige, was seine zeitliche Existenz ausdehnen kann, ein exakt beobachteter, schriftlicher Bericht ist.
Wong Kar-Wei dehnte in seinem in mehr als zehn Jahren entstandenen Kampf-Film „The Grandmaster“ die Zeit bis fast ins Unendliche; ein Text muss zu anderen Mitteln greifen. Immer wieder hadert Kerry Howleys Erzählerin Kit mit der „armseligen Wahrnehmungsfähigkeit des Körpers“. Einen Aufsatz über den Antirealismus von Hilary Putnam – nach dem die einzige, unabhängig existierende Wahrheit sich außerhalb unseres Wahrnehmungsvermögens befindet – illustriert sie mit Illustrationen diverser Martial-Arts-Techniken, etwa vom „Rear Naked Choke“ oder vom „Leglock“.
Mein Körper ist der Käfig
Ihre Vorliebe für fragwürdige und furchtbare Dinge, tröstet sich Kit bei der Ablehnung ihrer Seminararbeit über Schopenhauers Wahrnehmungstheorie, ist laut Nietzsche ein Symptom der Stärke. Sie wollte in ihrer Arbeit Schopenhauers These belegen, dass die Kontemplation großer Kunst die trübende Linse des rationellen Intellekts zeitweilig außer Kraft zu setzen vermag und ungefiltert sodann einfach nur das wahrzunehmen ist, was die Welt zu bieten hat. Mit einem 70seitigen Appendix über die Schärfung ihrer Wahrnehmungsfähigkeit beim Beobachten eines verfemten Kampfsports lieferte sie dafür Anschauungsmaterial. Es wurde der Grundstock dieses Buches.
Man wird danach MMA-Fighter nicht als mehr nur als zahnlose Kretins, Hinterwäldler-Voyeure, sadistische Adrenalinjunkies, kaltherzig, verroht und brutal ansehen. Einmal beschreibt sie einen blutverschmierten Kämpfer im Moment des Verlierens: „Seine Fingerspitzen berührten das Segeltuch mit äußerster Vorsicht, als ob er an eine Glocke tippen würde, um die Concierge zu rufen.“
Alf Mayer
PS. Bei der Arbeit an „Geworfen“ ließ Kerry Howley sich inspirieren von Jill Marsdens „After Nietzsche: Notes Toward a Philosophy of Ecstasy“. Als Verlag wählte sie explizit einen kleinen Independent, nämlich Sarabande Books in Louisville. Sie war Lektoren und Redakteure leid, die jeden Subtext erklärt und verdeutlicht haben und ihrem Wechsel zwischen langen Sätzen und kurzen nicht folgen wollten.
PPS. Joyce Carol Oates „Über Boxen“ (On Boxing) erschien 2013 in einer erweiterten Ausgabe im Manesse Verlag.
Kerry Howley: Geworfen (Thrown, 2014). Aus dem Amerikanischen von Simone Jakob. Ullstein Verlag, Berlin 2016. 336 Seiten, 20 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Internetseite der Autorin.