Sprengstofftester,
Selbstmordattentäter,
Lastenträger
– Diese Enzyklopädie kommt schmal daher. 154 Seiten. Aber sie haben es in sich. Dieses Buch kann verstören, findet Alf Mayer.
Es geht um Tiere, die der Mensch zu Kriegsteilnehmern gemacht hat. Es geht um Tiere, die der Mensch seit Anbeginn der Kriegsgeschichte militärisch nutzt und einsetzt. Wer das Buch aufschlägt, begegnet 32 Tieren aus sieben verschiedenen Klassen: Säuge-, Weich- und Spinnentiere, Vögel, Reptilien, Fische und Insekten. Elefanten, Mäuse, Ratten, Fledermäuse, Katzen, Hunde, Robben, Pferde, Esel, Maultiere, Schweine, Kamele, Lamas, Rentiere, Schafe, Rinder, Wale und Delfine, Tauben, Hühner, Gänse, Möwen, Falken, Kanarienvögel, Raben, Schlangen, Haie, Käfer, Glühwürmchen, Bienen, Skorpione oder Schnecken als Angreifer, Beobachter, Brandzünder, Lastenträger, Meldegänger, Minenauslöser, Selbstmordattentäter. Es gibt keine Perversion, die nicht überboten würde.
Zu jedem Tier gibt es ein Einsatzprofil, erschreckend nüchtern, weil als Buchstabensammlung. Etwa Elefant: ZT = Zugtier, RT = Reittier, PW = Psychologische Waffe, K = Kämpfer, LT = Lastenträger. Oder Schweine: SA = Selbstmordattentäter, ST = Sprengstofftester, MS = Minensuche.
Der Schrecken des Buches ist dabei eher ein stiller und stummer, aber er ist vielfach. Und er hallt nach. In bewundernswert knapper Form ist dies eine wahrhaft erschröckliche Kulturgeschichte.
Die Vermenschlichung der Tiere – und dies nicht zu ihrem Schutz
Ernst Jünger kommt – dies nicht unbedingt eine Kritik – nicht vor im Literaturverzeichnis. 1922, in „Der Kampf als inneres Erlebnis“, beschrieb er seine (menschlichen) Kameraden als „Jongleure des Todes, Meister des Sprengstoffs und der Flamme, prächtige Raubtiere, federten sie durch die Gräben. Im Augenblick der Begegnung waren sie der Inbegriff des Kampfhaftesten, was die Welt tragen konnte, schärfste Versammlung des Körpers, der Intelligenz, des Willens und der Sinne. Man kann Genuß an ihnen empfinden wie an bunten Raubtieren, die mit kühnen Lichtern in den Augen durch tropische Dickungen federn. Sie waren vollendet in sich.“ Ich zitiere das, weil das Buch der Vermenschlichung der Tiere nachgeht und sich auch fragt, woher denn bloß die Selbstsicherheit kommt, mit der der Mensch sich die Fähigkeiten der Tiere zunutze macht und welche Konsequenzen das wohl hat für Mensch und Tier?
Das minimalistisch gehaltene und gestaltete Buch mit seiner spröden Sachlichkeit wirkt ein wenig aus der Zeit gefallen – ich musste öfter an die Ästhetik der Prospekte des DDR-Verlags Volk und Welt denken, die ich mir als junger Westdeutscher in der 1970er Jahren organisierte. Schnickschnack und Firlefanz null, Informationsgehalt hundert Prozent.
Dokument mit Charakter
Die nüchterne Anmutung verdankt sich den Schriften Bradford Beta und Antique Medium (die für meinen Geschmack nicht allzu harmonisch nebeneinander stehen, die eine zeitungshafte Brotschrift, die andere klassische-nüchterner Bildtext) und einem konsequent durchgehaltenen Satzspiegel, der die schmalen Bildtextspalten weit nach außen und unten rückt, während die zweispaltigen Haupttexte einen Magazincharakter betonen. Viele inhaltliche wie gestalterische Elemente bekräftigen den Dokument-Charakter, es würde nicht wundern, wenn es sich hier um einen überlegt zustande gekommenen Ausstellungskatalog handeln würde.
Tatsächlich ist das Buch von Malin Gewinner, die an der UdK Berlin, der Bezalel School of Arts in Jerusalem und der Zürcher Hochschule der Künste Visuelle Kommunikation studiert hat, in Zusammenhang mit einer Ausstellung entstanden. Nämlich in Nähe zu der von Barbara Karwatzki konzipierten und realisierten Sonderausstellung „Tiere im Krieg“ des Naturkundemuseums Reutlingen (Juli – Okt. 2014). Anlässlich der Gedenken zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges widmet sich dort dem, wie es dort hieß, „bislang kaum beachtetem Aspekt zum Einsatz von Tieren im Krieg und welche Fähigkeiten man sich dabei zu nutze macht“.
Malin Gewinner hat aus diesem Aspekt ihr Debüt als Autorin entwickelt –gewiss also ist dies Buch eine Herzblutsache. Ob sie für das schöne gestrichene Papier – Inapa Bavaria matt, 90g/qm – und Rainbow Colors Lachs, 80 g/qm, für die körnigen Fotostrecken vorn und hinten kämpfen musste? Ich denke eher nicht. Schließlich ist dies der Verlag, in dem Judith Schalansky die auch gestalterisch traumhafte Reihe „Naturkunden“ machen kann (CulturMag-Besprechung hier). Malin Gewinners Werk fügt sich jedenfalls gut in das Verlagsprogramm, auf ihre nächsten Bücher kann man gespannt sein.
Neben dem Reutlinger Museum stammen die Informationen in den Tierporträts weithin aus der von Kathryn Babeck und Gorch Pieken kuratierten Dauerausstellung „Tiere beim Militär“ des Militärhistorischen Museums in Dresden. Vorgestellt werden die Tiere je in stark an „Brehms Tierleben“ angelehnten Einleitungen. Dieses erstmals 1863 erschienene zoologische Nachschlagewerk gilt zwar als veraltet und nicht mehr zitierbar, transportiert aber nach Ansicht von Malin Gewinner bestens die Tendenz zur Vermenschlichung der Tiere „und schlägt so eine Brücke zu einer Umorientierung unseres Blickes, die noch vor uns steht“.

Luftaufnahmen von Schlosshotel Kronberg (oben links) und Frankfurt am Main (unten links und Mitte); Tauben mit Kameras – Quelle: Wiki-Commons
Ein Apotheker aus Kronberg und seine Erfindung
Ich weiß noch – und die Brieftaubenfotografie ist nur ein winziges Detail in diesem Buch – wie ich einmal bei einer Recherche über die Internationale Luftfahrtausstellung Frankfurt (ILA) 1909 in der Unibibliothek Frankfurt plötzlich an einen Karton der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung voller irrsinniger Luftaufnahmen kam, die unmöglich ein Mensch geschossen haben konnte. Sie stammten von den gefiederten kleinen Gehilfen des Kronberger Apothekers Julius Neubronner, der Geschirre und Miniaturkameras für Tauben entwickelte und seine Fototechnik 1908 patentieren ließ. Bei der ILA Frankfurt wurde sie dem Publikum vorgestellt, die Zuschauer konnten das Einfliegen der Tauben beobachten, und die von den Tieren frisch mitgebrachten, mit einem luftdruckabhängigen Selbstauslöser geschossenen Luftaufnahmen wurden an Ort und Stelle in Postkarten umgesetzt.
Neubauer wiederholte das auch in Dresden und Paris, wo er zwei Goldmedaillen erhielt. Im Ersten Weltkrieg experimentierte das deutsche Militär mit seiner Erfindung. Brieftauben (ohne Kameras) wurden noch im Irakkrieg 2003 von den US-Truppen verwendet – als Frühindikatoren für Giftgasangriffe. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 transportierte die berühmte Pariser Taubenpost bis zu 50.000 auf Mikrofilm übertragene Telegramme pro Taubenflug von Tours in die belagerte französische Hauptstadt – insgesamt 100.000 Staatsdepeschen und eine Million Privatnachrichten.
Im Irak-Krieg 2003 gegen Saddam Hussein hatten US-Soldaten Tauben als Frühwarnsysteme gegen Giftgasangriffe dabei. Wie viele Tiere im Verlauf der Menschheitsgeschichte schon für den Krieg gestorben sind, ist kaum zu ermitteln. Erst für die letzten großen Kriege gibt es grobe Schätzungen. Im Ersten Weltkrieg dienten rund 14 Millionen Tiere als „Soldaten“ und beflügelten auch Ernst Jünger bei seinen Metaphern. Im Zweiten Weltkrieg liegen die Schätzungen bei 30 Millionen. Das 2004 im Londoner Hyde-Park enthüllte „Animals in War Memorial“ bringt es auf den Punkt. Auf seinen Flachreliefs sind neben Pferden, Kamelen, Elefanten auch Glühwürmchen zu sehen, die geholfen haben, Karten und Meldungen zu begutachten. Die zwei Inschriften lauten: „Dieses Denkmal ist allen Tieren gewidmet, die zu allen Zeiten in Kriegen und Konflikten den britischen und alliierten Streitkräften dienten und starben.“ Und die zweite: „Sie hatten keine Wahl.“
Wer wissen will, welch starker Topos die im Krieg missbrauchten Tiere auch heute noch sind, muss sich nur die letzten „Star Wars“ und „Hobbit“-Film ansehen. Dort wimmelt es von Tiersoldaten.
Alf Mayer
Malin Gewinner: Anthropomorpha: Tiere im Krieg. Eine Enzyklopädie. Hardcover. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 154 Seiten, durchgängig illustriert, 30 Euro. Verlagsinformationen.
Ebenfalls interessant:
Rainer Pöppinghege (Hrsg.): Tiere im Krieg. Von der Antike bis zur Gegenwart. Schöningh Verlag, Paderborn 2009.