Geschrieben am 9. Februar 2009 von für Bücher, Litmag

Stefan Beuse: Alles was du siehst

Ein Schimmer von Erleuchtung

Mit seinem neuen Roman Alles was du siehst gibt Stefan Beuse unserer durch Wissenschaft und Ratio restlos entzauberten Welt wieder eine Spur von Geheimnis und Magie zurück. Wie schon in seinen Vorgängerromanen zeigt der Hamburger Schriftsteller dabei auf ebenso poetische wie spannende Weise die oszillierenden Grenzen unserer Wirklichkeit und Wahrnehmung auf. Von Karsten Herrmann

Im Zentrum des neuen Romans steht ein erfolgreicher Ghostwriter und Biograf, der zu einem Auftrag in die USA gerufen wird. Ohne nähere Einzelheiten zu kennen, soll er die Geschichte eines gänzlich unbekannten Mannes schreiben. Als postmoderner Nomade ohne belastendes Hab und Gut ist dieser namenlose Ich-Erzähler es gewohnt, sich voll und ganz seinen Aufträgen zu widmen: „Was mich auszeichnete, war die Fähigkeit, jemand anders zu werden.“

Von seinem Auftraggeber wird der Ghostwriter in einem verschneiten Haus nahe der Cornell-University in Ithaca einquartiert. Hier hat sich eine bunte Truppe – unter ihnen der Student Waldo und die Katze Schrödinger – zusammengefunden, um „eine Tür aufzustoßen jenseits der Grenzen natur- und geisteswissenschaftlicher Erkenntnis“. Merkwürdige Dinge und Begegnungen ereignen sich in diesem Haus und alsbald verliert Beuses Protagonist in einem doppelten Sinne seine Identität – doch manchmal scheint man erst etwas verlieren zu müssen, um es wirklich zu finden.

Parallel erzählt Beuse fragmentarisch zwei weitere Geschichten: So lernt der Leser Ned kennen, der seit seiner Begegnung mit Kasey weiß, „dass das Leben, das er bisher geführt hatte, nicht seins war“. Wie ein unsichtbarer Begleiter und Zwilling beobachtet und fotografiert Ned seitdem das junge Mädchen, das mit den Bäumen spricht und mehr weiß, sieht und fühlt als andere Menschen. Und dann ist da die berührende Geschichte der eineiigen Zwillinge Aaron und Lia Singer, die vor ihren brutalen Eltern in die Wildnis fliehen und in eine magische Bilderwelt eintauchen. Nach und nach verweben sich die drei Erzählstränge miteinander und schließen am Ende den Kreis.

Stefan Beuses Roman Alles was du siehst ist ein faszinierendes und spannungsgeladenes Spiel mit Identitäten und Wirklichkeiten. Von Seite zu Seite erhöht sich sein suggestiver Sog und auf geradezu kafkaeske Art droht der Leser gemeinsam mit dem Ich-Erzähler den Boden der Tatsachen unter den Füßen zu verlieren: „Wir glauben, was wir sehen und anfassen können. Dabei ist es genau umgekehrt. Wir sehen die Dinge, weil wir sie für wahr halten.“

Leicht und fast schwerelos wie ein Schmetterling flattert der Leser durch Beuses Prosa, die zu einer kostbaren poetischen Essenz destilliert ist. Sinnlich und bildgewaltig öffnet er die Pforten zu einer höher dimensionierten Wirklichkeit zwischen Quantenphysik und Transzendentalphilosophie. Eine eindeutige Auflösung wartet hier am Ende nicht, aber vielleicht so etwas wie der Schimmer einer ganz und gar nicht profanen Erleuchtung.

Karsten Herrmann

Stefan Beuse: Alles was du siehst. Roman. Gebunden. München: C.H. Beck 2009. 176 Seiten. 19,90 Euro.