Kleine Weltgeschichte des Vergessens
Stefan Beuse über Stefan Merrill Blocks fast beängstigend perfektes Debüt, das dem Autor in den USA jede Menge Vergleiche mit anderen Wunderkindern eingebracht hat.
Ein alter buckliger Mann mit dem biblischen Namen Abel wartet in einem abbruchreifen Haus irgendwo in Texas auf seine verschwundene Tochter. Er hat nichts mehr außer einer vergangenen Liebe, die in ihrer ganzen Unausweichlichkeit, ihrer anarchischen Unbedingtheit in seiner Erinnerung vor uns buchstäblich wieder ersteht, während Abel immer mehr von seinem Land an die Nachbarn verkaufen muss. Beim Einkaufen im nahe gelegenen Supermarkt (zu dem er auf seinem alten Pferd reitet) fühlt er sich umzingelt von einer Welt aus Glas und Stahl; seine windschiefe Hütte ist die letzte Bastion gegen das einheitliche Wohngebiet, das hier entstehen soll. Es ist die Geschichte eines Mannes, der mit seiner Sehnsucht, seiner Liebe wie eine Ein-Mann-Armee gegen die stählernen Raupen steht, die alles plattmachen sollen.
Die zweite Geschichte in diesem Buch handelt von dem 15-jährigen Seth, der miterleben muss, wie seine Mutter zunehmend den Verstand verliert und schließlich in ein Pflegeheim kommt. Es stellt sich heraus, dass die Mutter an einer genetisch bedingten Frühform von Alzheimer leidet. Seth versucht, diese Krankheit zu begreifen. Er ist besessen von der Vorstellung, ein Heilmittel zu finden, knackt Datenbanken und verfolgt die Entstehung und Verbreitung dieses Gendefekts aus dem England des 18. Jahrhunderts bis ins heutige Amerika.
Und es gibt da noch eine dritte Geschichte: von dem goldenen Land Isidora, in dem es keine Erinnerung gibt, keine Worte. Es ist ein Land, in dem alle glücklich sind; eine Legende, die sich ebenso ausbreitet wie der besagte Gendefekt.
„Dein Glaube an Isidora und deine Entfernung von diesem Land sind ein und dasselbe.“
Wie souverän der damals gerade mal 20 Jahre alte Autor diese Erzählstränge zu einer vielschichtigen, intelligenten, tieftraurigen, schreikomischen, hoch poetischen und profund recherchierten Geschichte über das Vergessen verflicht, trägt ihm seit dem Erscheinen des Romans in den USA jede Menge Vergleiche mit anderen Wunderkindern wie Jonathan Safran Foer ein. In der Tat eint die beiden nicht nur ihre Originalität und die unbändige Fabulierlust, sondern auch ein leicht größenwahnsinniger Hang dazu, den ultimativen Familien-, Liebes- und Adoleszenzroman mit der letztgültigen medizinischen, philosophischen und metaphysischen Abhandlung zu einem Gebilde zu verschmelzen, vor dem alle staunend niedersinken sollen.
Dass dieses extrem ambitionierte Unterfangen (das Manuskript hatte ursprünglich 1300 Seiten) nicht scheitert, dass die zahlreichen Schichten das Bild nicht verschleiern, sondern ihm nur mehr Tiefe verleihen, dass überhaupt ein Bild daraus entsteht und dass das, was hier jetzt wahnsinnig verkopft und kompliziert klingt, bei alldem auch noch federleicht daherkommt, daraus kann man schon eine frühe Meisterschaft ableiten.
Stefan Merrill Block hat mit The Story of Forgetting (so der weit treffendere Originaltitel) ein fast beängstigend perfektes Debüt abgelegt, und wenn man überhaupt etwas gegen das Buch haben kann, dann ist es ein irgendwie irrationales Gefühl, das sich am besten mit einem typischen Mädchensatz fassen lässt, der oft fällt, wenn junge Damen in einem bestimmten Alter auf junge, gut aussehende, intelligente Schwiegermuttertypen treffen. Warum es denn nicht so recht funken will, fragt die beste Freundin, der Typ sei doch wirklich perfekt! – „Jaaa, du hast recht“, zögert das Mädchen, „leider. Der ist auch total verliebt in mich und voll süß und so. Aber, ich weiß auch nicht: Irgendwie ist der mir zu lieb.“
Stefan Beuse
Stefan Merrill Block: Wie ich mich einmal in alles verliebte (The Story of Forgetting, 2008). Roman.
Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay. Dumont, Köln 2008. 348 Seiten. 19,90 Euro.