Geschrieben am 19. Dezember 2009 von für Bücher, Crimemag

Stephan Brüggenthies: Der geheimnislose Junge

Gelungenes Debüt

Bisweilen gehen sie einem ja schon gehörig auf die Weichteile, nicht wahr? All diese Monster und Wüteriche, diese an Gliedmaßen säbelnden und in Eingeweiden wühlenden Triebtäter, Serienkiller und Satanisten, gothic Psychos, rassistischen Finsterlinge, und dazu all die Knalleffekte und Abnormitäten als unvermeidliches Dekor, diese Badewannen voll Blut und Rinnsale von Sperma und anderen Körperflüssigkeiten, kurz: dieser endlose Schwall von Abartigkeiten, mit dem sich Krimiproduzenten an uns Konsumenten meinen anwanzen zu müssen. Nicht so Stephan Brüggenthies, lobt Klaus Kamberger.

Wie wohltuend dann ab und an, sich ganz ohne Schock, Okkult und Voodoo einen Roman einverleiben zu dürfen, bei dem man nach mehr als 500 Seiten sich Augen reibend fragen darf: Wie denn? Schon zu Ende? Genau das ist mir jetzt passiert mit einem Debüt im Eichborn Verlag. Stephan Brügggenthies heißt der Autor. Merken! Eine richtig gute Geschichte: locker und mit viel Spaß an Spott leiser Ironie geschrieben, thrilling und abwechslungsreich genug, dass man bis zum Ende dran bleibt, ohne auch nur einen Durchhänger erlebt zu haben.

Und das, wie gesagt, bei einem Erstling. Gelesen hatte man von diesem Stephan Brüggenthies aus Münster/Westfalen, inzwischen wohnhaft zu Köln am Rhein, bisher noch nichts. Zwei Tatort-Drehbücher hat er verfasst, ein paar (preisgekrönte) Kurzfilme verfertigt, das war’s. Das Erstaunliche an diesem Wurf ist, dass man den Plot eigentlich recht übersichtlich nennen könnte. Ein fünfzehnjähriger Junge verschwindet auf mysteriöse Weise aus seinem wohlbehütenden Kölner Mittelstands-Elternhaus. Die Frage: Ist er abgehauen, weil Mama und Papa es einfach zu gut mit ihm meinten? Oder hat er sich bloß in ein Mädchen (von nebenan oder vom letzten Strandurlaub) verknallt und genießt jetzt mit ihr an einem geheimen Zufluchtsort die ersten Pubertätsliebeswonnen? Wurde er gar entführt? Wenn ja, von wem? Rivalen des Vaters? Erpressern? Rächern? Päderasten? Die Ermittler der Kölner Kripo tappen.

Ein bisschen Grusel

Klar doch, ganz und gar ohne den oben paraphrasierten Grusel geht es auch hier nicht ab, aber außer einer vorerst ins Nichts verlaufenden Spur – im fernen Turin wird die arg verstümmelte Leiche eines Jungen gefunden, auf die die Beschreibung des Vermissten passen könnte – gibt es da nicht viel. Doch sonst quillt die Geschichte geradezu über von Beobachtungen voll von erzählerischem Witz, stimmiger Atmosphäre, genauen Milieuskizzen, originellen Charakteren – kurzum, von allem, was wirklich unterhaltsam und somit gute Literatur ist.

Über gängige Krimi-Klischees stolpert man dagegen so gut wie nie. Der mit dem Fall betraute Kommissar (er heißt Zbigniew Meier, die Mutter hält halt was auf ihre polnischen Wurzeln) leidet mitnichten an den typischen Beziehungswidrigkeiten gestresster Polizisten (unregelmäßiger Dienst, unstetes Privatleben, maulendes Eheweib), sondern an der eher untypischen Überforderung, die ihm seine 17-jährige (!) Freundin antut (schließlich ist ein Mittdreißiger in den Augen dieser Altersgruppe ja schon ein Grufti). Der Staatsanwalt, dem er untersteht, ist nicht der übliche nach oben buckelnde und nach unten tretende Rechthaber, und die ebenso üblichen Wichtigtuer vom LKA bzw. hirnlosen Zugreifer vom SEK fehlen auch. Da ist es nur konsequent, dass die Leute, mit denen Zbigniew im Laufe seiner Ermittlungen zu tun bekommt, nicht zu den üblichen Schießbudenfiguren mutieren (à la selbstgerechte Väter, verhuschte Mütter, intrigante Schwägerinnen/Schwiegermütter/Ex-Geliebte, tratschsüchtige Nachbarinnen, missgünstige Kollegen, beschränkte oder eitle oder verklemmte Zeugen), nichts von alledem, sondern, man sehe und staune, fast nur normale Menschen. (So man sich denn seit Manfred Lütz noch darauf einigen kann, was normal ist …)

Normal?

Es ist ja auch viel spannender, „normale“ Menschen bei dem zu beobachten, was sie umtreibt – notfalls eben auch in kriminelle Abgründe. Brüggenthies’ Kunstfertigkeit besteht nun darin, all dies scheinbar „Normale“ so detailreich auszubreiten und farbig auszumalen, dass man gar nicht recht merkt, wie oft er von den direkten Handlungssträngen seiner Geschichte abschweift und das Drumherum zu seinem Recht kommen lässt. Genau das verleiht ja, wie man weiß, fast jeder Mahlzeit erst die spezielle Würze. Will sagen: Man möchte eigentlich immer noch mehr über die Figuren erfahren, die den Roman bevölkern.

Gewiss kann man dergleichen rein theoretisch auch unter „gekonnte Anhäufung von Redundanz“ abhaken; doch der Kniff, wenn er denn einer ist, wirkt genau umgekehrt: Man bleibt umso mehr bei der Stange. Und immer gerade dann, wenn man anfangen könnte zu fragen, wie es denn jetzt weitergeht mit der Suche nach dem entschwundenen Jungen, kriegt Brüggenthies elegant die Kurve und zieht den Leser locker auf die Spur zurück. Auf die Spur eines ungewöhnlichen Jungen, der mit seinen 15 Jahren nicht etwa Comics, sondern meterweise Weltliteratur verschlingt, der komplizierte Berlioz-Partituren liest, der sich seinen Eltern entzieht und sein Leben im Sinne des Worts vor ihnen (und folglich auch vor der Polizei) „verschlüsselt“. Wo steckt er also? Im heimischen Köln? In Turin? Weder noch. In der Normandie, wo er den Sommer zuvor mit seinen Eltern Ferien gemacht hat, läuft alles zusammen.

Dass am Ende Frankreich zum Schauplatz des Showdowns wird (und nicht wahlweise Dänemark oder Tschechien oder Griechenland), dürfte schlicht mit der Liebe des Autors zum Nachbarn im Westen zu deuten sein (wobei sich dann doch ein Seitenblick nach Belgien aufdrängt, wo noch vor kurzem ein gewisser Marc Dutrout im wirklichen Leben sein kinderschänderisches Unwesen getrieben hat).

Weiter sei nichts verraten! Nur noch einmal festgestellt: Dieser Brüggenthies ist eine Entdeckung! Einer, der erzählen, Charaktere entwickeln, Neugier wecken, Empathie (mit Ermittlern wie Betroffenen) erzeugen kann. Chapeau! Formidable! Et voilà c’est exactement la manière d’écrire un roman policier!

Klaus Kamberger

Stephan Brüggenthies: Der geheimnislose Junge. Roman.
Frankfurt am Main: Eichborn Verlag 2009. 412 Seiten. 16,95 Euro.