Wo liegt eigentlich Tschetschenien?
– Kamelhaarmantel trifft grobe Strickweste mit Foulard an einer schmucklosen Garderobe. Das erzählt jedenfalls der Umschlag des Romans „Emma schweigt“ der österreichischen Schriftstellerin Susanne Scholl. Darin schreibt sie die Geschichten zweier Frauen aufeinander zu, die kaum unterschiedlicher sein könnten als die aufgehängten Kleidungsstücke. Von Senta Wagner
Tatsächlich stoßen in dem schmalen Roman Welten aufeinander. So liegen nicht nur die aufgespannten geografischen Räume höchst weit auseinander, sondern auch die Erlebnis- und Gefühlssphären, die Erinnerungen und Wahrnehmungen der Figuren. Scholl entfaltet diese erzählerisch mühelos und unterhaltend in changierenden Kapiteln und Abschnitten.
Wir haben also: Emma, satte, sesshafte und rüstige Alltagsrentnerin aus Wien, deren Lebensseufzer lautet: Man hat es ja nicht leicht. Ihr einziger Stolz ist ihr Arztsohn. Und wo tarnte sich mütterliche Aufopferung nicht über die Nahrungsaufnahme: Der Junge braucht schließlich was Ordentliches zu essen. Erst in der Überzeichnung der Emma wird ihre Entwicklung erkennbar und entgeht sie dem Spott der Lesenden. Und: die junge Mutter Sarema aus Grosny. Die Tschetschenin überblendet mit ihrem Schicksal, das von Leid, Angst und Gewalt geprägt ist, locker das Schicksal der Emma, die Kleinlichkeit ihrer Sorgen und ihr Gemecker.
Auf der Flucht
Der ganze Roman ist angelegt auf Kontrastierung, die sich auch sprachlich niederschlägt. Für die gelungene Innenperspektive der einfachen Emma könnte man sagen: hier ist denken gleich sprechen – formal ungehobelter, ungebildeter, ja auch betulicher. Ein präziser, nuancierter und schöner Ton steht für die Perspektive der Sarema. Die lautliche Ähnlichkeit der beiden Vornamen ist sicher kein Zufall. Wobei die Widmung von Scholl – „Für meine tschetschenischen Freundinnen, die nie aufgeben“ – weit über diese Bindung hinausweist und mit Sarema ein singuläres Flüchtlingsschicksal einen Namen für zahllose andere bekommt. Heimatlosigkeit, Leben im Transit, Traumatisierung. Mehrfach im Text werden demgegenüber etwas platt Sicherheit und Sattheit in Österreich betont und dass „niemand weiß, wie das ist“ in Tschetschenien. Zweifellos zeigt der Roman traurige gesellschaftliche und politische Realitäten wie menschenrechtliche Skandale auf. Auch ist Susanne Scholl nicht die einzige Autorin, gewiss aber eine der kundigsten, die differenziert von Krieg, Flucht und Fremdheit erzählt. An ein Wachsamsein der Menschen über Grenzen und Kulturen hinweg kann nur appelliert werden.
Sarema gelingt mit ihrem jüngsten Sohn die abenteuerliche Flucht von Grosny nach Wien. Sie stellen Asyl, leben im Heim, Schamil darf die Schule besuchen. Der Tschetschenienkrieg hat Sarema alles genommen – ihre Familie, ihren Mann, die beiden älteren Söhne, ihre Träume und Ziele. „So viele. So viele Tote auf ihren Schultern. Die sie mitträgt, die ihr so sehr fehlen, die sie keinen Augenblick vergisst, die sie so alleine gelassen haben.“ Mehrfach begegnet die Rentnerin Sarema im Supermarkt und denkt sich ihren Teil: „So eine eben. Mit langem Rock. Aber das Kopftuch hat sie nicht aufgehabt, sondern eher wie ein Haarband um den Kopf gewickelt getragen.“ Die Sprache klingt vollkommen „unverständlich, wie ein Husten“. Alles Fremde ist ihr suspekt.
Großes Glück
Saremas und Emmas Leben prallen durch einen Zufall endgültig aufeinander, als Emma einen Unfall hat und Sarema die Pflege übernimmt. Sie nennt das ein „großes Glück“, Emma einen „guten Menschen“. Allein kämpfen und weiterleben tut sie nur für ihren Sohn.
Die Versehrtheit der einen spiegelt sich nun in der der anderen. Beide machen sich übereinander Gedanken, reflektieren etwa auf ihre Weise das Missmutige der jeweils anderen. Ein tieferes Verstehen, allein ein Verständnis will nicht gelingen, weil sie dafür keine gemeinsame Sprache haben. Erzählerisch schnurren also die beiden Stränge auf einen engen Radius in der Gegenwart zusammen. Die quälenden Erinnerungen und das Gefühl der Bedrohung holen Sarema dennoch immer wieder ein, aber sie verdrängt sie. Wem soll sie sie auch erzählen? Emma? Die weiß nicht einmal, wo Tschetschenien liegt.
Mit der Figur der quirligen Schwiegertochter Emine, türkische Migrantin zweiter Generation, werden Ablehnung und Misstrauen zusätzlich in beiden Richtungen durchgespielt (übrigens auch hier eine lautliche Ähnlichkeit mit den Namen der Hauptfiguren): Emma gegen Emine, Emine gegen Sarema. Es sitzt in den Köpfen.
Die Geborgenheit, von der Mutter und Sohn umfangen werden, bleibt fragil – alles ist nur eine vermeintliche Rückkehr ins Leben, denn stets droht die Abschiebung, auch über Jahre hinweg. Für Emma wird der vife Schamil zum Quell der Freude, Kinder sind wie Herzöffner. Emma erkennt ihre eigene Einsamkeit, gewöhnt sich an die beiden, zeigt sie aber Mitgefühl, bleibt dieses nicht mehr als ein „ungewöhnlicher Anfall“. Dass ihre Hilfe ihr Schutz ist, sieht sie nicht. Als es darauf ankommt, schweigt Emma. Sarema hat es viel zu lange getan.
(In Österreich gibt es seit einigen Jahren Projekte für Tschetschenen, die die freiwillige und menschenwürdige Rückkehr und Reintegration ermöglichen.)
Senta Wagner
Susanne Scholl: Emma schweigt. St. Pölten u.a.: Residenz Verlag 2014. 179 Seiten. 19,90 Euro.