Geschrieben am 15. März 2009 von für Bücher

T. C. Boyle: Das wilde Kind

Der Kampf von Natur und Kultur

Ob Zukunftsthriller wie Talk, Talk, biografisch grundierte Sittengemälde wie Dr. Sex und Die Frauen, ob Hippie-Kommune wie in Drop-City oder Öko-Terrorismus wie in Der kleine Freund: Der amerikanische Erfolgsschriftsteller T. C. Boyle spielt auf einer breiten Klaviatur von Zeiten und Themen. In seiner Novelle Das wilde Kind geht er jetzt bis ins 18. Jahrhundert zurück und beleuchtet das ewige Spannungsverhältnis von Natur und Kultur, von Wissenschaft und Menschlichkeit. Von Karsten Herrmann

Im Jahr 1797 fangen Holzfäller im Süden Frankreichs ein nacktes Wesen ein, das weder Tier noch Mensch zu sein scheint – es kratzt und beißt, weist jede Annäherung rüde zurück. Schnell wird das Kind zum Objekt wissenschaftlicher Begierde und die ganze sensationslüsterne Nation war „wie verrückt nach den Nachrichten über dieses Wunderwesen“ – wird es Jean Jaques Rousseaus’ These vom Natur aus „edlen Wilden“ bestätigen oder doch eher John Lockes und Abbé Bonnot de Condillacs Annahme von der „tabula rasa“ bei der menschlichen Geburt?

Das „Wunderwesen“ kommt nach Paris in ein Institut für Taubstumme, wo Doktor Itard sich mit Strenge und Geduld um die Zivilisierung des bald Victor genannten Kindes bemüht. Immer neue Methoden ersinnt Itard, um Victor artikulierte Laute, Silben und Worte zu entlocken, ihm die Grundlagen der sprachlichen Repräsentation, aber auch der menschlichen Moral und Sittlichkeit zu vermitteln. Es ist „der unablässige Kampf zweier Willen“, der für Itard mit kleinen Fortschritten und großen Rückschlägen verbunden ist: „Es gab eine Blockade, ein Hindernis, das Victor einfach nicht überwinden konnte.“ So bricht bei ihm doch immer wieder die wilde Natur und die Regression in längst überwunden geglaubten Verhaltensweisen hervor.

Anrührende Entwicklungsgeschichte

T. C. Boyle war, wie er selbst sagt, „schon immer fasziniert von Geschichten, die vom animalischen Wesen des Menschen handeln“. Anhand der historisch verbürgten Geschichte von Victor, dem „Wolfsjungen“, erzählt er in gewohnt geschmeidiger und glänzender Prosa vom Kampf eines solchen animalischen Wesens gegen seine Kulturalisierung. Er erzählt aber auch von einem in den Zeiten der Aufklärung aufflammenden wissenschaftlichen Enthusiasmus, der in Konflikt gerät mit einer nicht zweckgerichteten, mitfühlenden Menschlichkeit.

Das wilde Kind ist eine anrührende Entwicklungsgeschichte, der allerdings ein gutes Ende verwehrt bleibt. Der Leser und die Leserin bleiben etwas ratlos mit der offenen Frage zurück, wie sie hätte glücken können.

Karsten Herrmann

T. C. Boyle: Das wilde Kind (Wild Child, 2010).
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren.
Hanser Verlag 2010. 110 Seiten, 12,90 Euro.

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