Vom Regen in die Traufe
– Als die Demokratie im Osten Einzug hielt, da besuchte sie nur eine kleine Schicht von Oligarchen – die breite Masse muss auf ein zufälliges Wunder hoffen. Wie Lena, die Heldin von Tanja Maljartschuks anrührendem Roman. Von Andreas Pittler
Vor einem Vierteljahrhundert feierte die Welt das Ende des real existierenden Sozialismus. Den Völkern des „Ostblocks“ winkte mit einem Mal die Freiheit. Doch in der Praxis blieb ihnen wenig mehr als die „Freiheit, Hungers zu sterben“, um Karl Marx an dieser Stelle zu bemühen. Im alten Sowjetimperium herrschte tatsächlich eine Art morbider Gleichheit: es waren nämlich alle arm und denselben Unbilden ausgesetzt. Nun sind zwar einige – man denke an Abramowitsch, Timoschenko oder Saakaschwili – unermesslich reich geworden, doch für den allergrößten Teil der Bevölkerung sind die Dinge nur noch schlimmer geworden, denn mittlerweile ist nicht einmal mehr leistbar – Wohnen, Gesundheitsversorgung, Bildung -, was im „Kommunismus“ noch (fast) gratis war. Vor allem aber wurden die Menschen völlig unvorbereitet in ein neues System katapultiert, sodass ihr reales Scheitern quasi vorprogrammiert war. Dass solch eine Entwicklung jede Menge Frustration und, daraus folgend, Aggression erzeugt, war absehbar.
Die Straßen von San Francisco
Das alles spürt auch die kleine Lena, die Heldin in Tanja Maljartschuks neuem Roman. Schon ihr Name stößt in der heutigen Ukraine auf massiven Widerspruch. Bereits im Kindergarten will man ihr die „ukrainische“ Variante ihres Vornamens aufzwingen, da die Ukraine doch eine eigene Nation mit einer eigenen Geschichte sei. Wo käme man da hin, wenn man sich einer Namensform bediente, die nicht genuin ukrainisch ist! Lena aber beharrt auf ihrer Identität, und die katastrophalen Rahmenbedingungen eines Gemeinwesens, das sich in der Praxis gleichsam als „failed state“ entpuppt, bestärken sie nur in ihrer Haltung.
Denn Lena geht mit offenen Augen durch ihre Stadt San Francisco (hinter der sich kaum verklausuliert Iwano-Frankiwsk verbirgt). Und sie sieht, wie Intellektuelle mit einem Mal gezwungen sind, irgendwelchen Plunder am Markt zu verkaufen, weil man ihre Lehrstühle aus Geldmangel eingespart hat. Sie muss miterleben, wie ihr Vater, angesteckt vom Mythos des freien Marktes als Unternehmer mangels entsprechender Kapitalausstattung elendiglich Schiffbruch erleidet, und sie sieht, wie ihre beste Freundin auf die eigenen vier Wände zurückgeworfen ist, da sich ihre Eltern den Rollstuhl, der das Mädchen wieder mobil machen würde, nicht leisten können. Kapitalismus, so lernt Lena schmerzhaft, heißt, dass der Reichtum eines Volkes privatisiert, die Armut aber vergesellschaftet wird. Und das hohle nationale Pathos der „orangen Revolution“ schafft weder Arbeit noch Brot. Es füllt nur die Taschen seiner Anführer.
So weit freilich denkt Lena gar nicht. Sie nimmt die leeren Phrasen der neuen Zeit ernst und denkt sich, wer immer tätig sich bemüht, der wird am Ende auch erlöst werden. Also beginnt sie, sich zu engagieren. Ihre erste Kampagne gilt den streunenden Hunden, die nur allzu oft in diversen Kochtöpfen landen. Zu ihrer eigenen Überraschung wird ihre Aktion breit aufgegriffen, und die Dinge scheinen sich zu bessern. Als sie dann aber auch für ihre Freundin einen Rollstuhl einfordert, schlägt die Stimmung der Obrigkeit abrupt um. Hunde, gut – aber wenn man den Menschen ein wenig Würde zurückgibt, da könnte man ja gleich wieder den Kommunismus aufrichten. Lena gibt nicht auf. Sie klammert sich an die Hoffnung, dass Wunder geschehen können. Und an die Legende von der fliegenden Frau, die immer dort gesehen wird, wo die Not am größten ist.
Starke Stimme
Tanja Maljartschuk ist gerade einmal 30 Jahre alt. Seit zwei Jahren lebt sie in Wien, nachdem sie zuvor einige Jahre als Journalistin in ihrer ukrainischen Heimat gearbeitet hat. Und trotz ihrer Jugend hat Maljartschuk bereits genügend Erfahrung gesammelt, um die ganze Not, das ganze Elend einer ent- und getäuschten Generation in einer beinahe märchenhaft und zutiefst anmutigen Erzählung auf den Punk t zu bringen. Mit einer überraschend lakonischen Weisheit gelingt es der jungen Autorin, die ganze Absurdität der heutigen Ukraine bloßzulegen. Die schwachsinnige Hinwendung an antisemitisch-faschistische Banditen wie Stephan Bandera, die sture Ignoranz „demokratisierter“ Bürokraten und die schonungslose Gaunerei der Wendehälse, die vom Systemwandel profitierten. Und das alles kommt bei Maljartschuk so leichtfüßig und mitunter beinahe ironisch daher, dass man immer noch Hoffnung haben kann, es werde alles zu einem guten Ende kommen.
Den Namen Tanja Maljartschuk, die vor vier Jahren erstmals mit ihrem Erzählband „Neunprozentiger Haushaltsessig“ auf sich aufmerksam machte, wird man sich merken müssen. Hier hat eine neue starke Stimme die Literaturszene betreten, die trotz ihrer Jugend bereits ihren eigenen Stil gefunden hat und dabei aus den besten Traditionen der ostslawischen Literatur von Bulgakow bis Platonow schöpft. Der „Biografie eines zufälligen Wunders“ ist eine weite Verbreitung zu wünschen, und der Leserschaft noch viele Werke aus der Feder dieser bemerkenswerten Autorin.
Andreas Pittler
Tanja Maljartschuk: Biographie eines zufälligen Wunders. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Anna Kauk. Residenz Verlag, Salzburg 2013. 268 Seiten. 21,90 Euro.