Geschrieben am 14. März 2012 von für Bücher, Litmag

Thomas von Steinaecker: Das Jahr, in dem ich aufhörte mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen

Die dünne Haut der Realität

– In seinem neuen Roman führt uns Thomas von Steinaecker in die von Controlling, Optimierung und Umstrukturierung bestimmte Welt des Versicherungsbusiness. Der mehrfach preisgekrönte junge deutsche Autor zeigt dabei auch, wie das realistische Erzählen in unseren Zeiten immer schon eine surreale Dimension in sich trägt. Von Karsten Herrmann

Von Steinaeckers Protagonistin Rita Meißner wird nach einer Liaison mit einem „Alpha-Senior“ im Frankfurter Headquarter ihrer Versicherungsgesellschaft befördert und nach München versetzt. Als stellvertretende Abteilungsleiterin versucht sie hier um jeden Preis die Kontrolle über ihren Job und ihr Privatleben zu behalten – durch ihr tadelloses Businessoutfit, ein buntes Sortiment an Schlaf- und Beruhigungstabletten, durch Rezepte und Weisheiten aus ihren unzähligen Marketing-Seminaren oder kleine neurotische Ticks wie das Sammeln von Pfandflaschen. Ihr Leben ist ein ständiger Balanceakt, bei dem ein kleiner Aussetzer schon den Absturz bedeuten kann: „Sind wir realistisch, leben wir in einer Welt, in welcher der Glücksfall die Ausnahme darstellt, der Worst Case aber den Normalzustand.“

Doch dann winkt Rita Meißner der Glücksfall in Form eines Premium-Kunden, der einen großen Vergnügungspark in München bauen und von ihr versichern lassen will. Zum Vertragsabschluss reist sie in das russische Samara, wo sie in die virtuellen Welten und simulierten Katastrophen eines Vergnügungsparks eintaucht und in einem „Mars“-Hotel logiert, in dem es keine Zeit mehr gibt. Hier trifft sie schließlich auf die Herrin eines generationenalten Vergnügungsparkimperiums, die erstaunliche Ähnlichkeit mit ihrer verschwundenen Großmutter hat. Die ganz auf die Gegenwart und ihre zukünftige Karriere konzentrierte Rita Meißner verliert sich in den künstlichen Welten und in der auf merkwürdige Weise verschränkten und dabei in die Nazizeit zurückführenden Vergangenheit zweier Familien aus München. Nach einer beruflichen Hiobsbotschaft aus Deutschland kommt für Rita Meißner schließlich der titelgebende Zeitpunkt, an „dem ich aufhörte mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen“.

Von Steinaecker, Manuskriptseite

Im kalten Herz des Business

Am Beispiel des Versicherungswesens dringt Thomas von Steinaecker in das kalte Herz der ganz auf Konkurrenz und Leistung ausgerichteten Welt des Business mit ihren ausgefeilten Risikoanalysen und Controlling-Instrumenten ein. Ihr deformierender Druck führt bei seiner Protagonistin schließlich zu einem zunehmenden Kontroll- und Wirklichkeitsverlust. Offen lässt er, ob es sich hier um einen End- oder Wendepunkt handelt.

Stilistisch erzählt von Steinaecker seinen Roman in leicht distanzierter, realistischer Weise und fügt immer wieder aktuelle Zeitbezüge, Statistiken oder auch fotografische Schnappschüsse ein. Doch fast unmerklich lässt er dabei die dünne Haut der Realität einreißen und offenbart die darunterliegenden Sur-Realitäten, in denen sich Assoziation, Traum und Wahnsinn verschränken und alle Sicherheiten entgleiten.

Karsten Herrmann

Thomas von Steinaecker: Das Jahr in dem ich aufhörte mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen. Frankfurt: S. Fischer Verlag 2012. 398 Seiten. 19,99 Euro.

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