Geschrieben am 12. Oktober 2011 von für Bücher, Litmag

Thomas Weber: Hitlers Erster Krieg

Heroischer Frontkämpfer oder feiges Etappenschwein?

– Thomas Weber demontiert in seiner spannenden historischen Studie „Hitlers Erster Krieg“ nicht nur den Mythos vom tapferen Frontkämpfer-Gefreiten während des Ersten Weltkriegs, er korrigiert auch die weitverbreitete These, Hitlers antisemitische Ansichten und seine politische Radikalisierung seien das Resultat seiner Kriegserfahrungen gewesen. Von Peter Münder

Na gut, die Geschichte des Ersten Weltkriegs muss aufgrund der neuen Erkenntnisse von Thomas Weber nicht unbedingt komplett neu geschrieben werden. Aber ein veritabler Scoop ist dem deutschen Historiker, der als Dozent an der Uni von Aberdeen Europäische Geschichte unterrichtet und diesen Band im letzten Jahr bei der Oxford University Press in englischer Sprache veröffentlichte, schon gelungen: Um zu eruieren, ob die Erfahrungen an der Front tatsächlich, wie George F. Kennan konstatierte, „die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ war und das antisemitische Weltbild des Gefreiten aus Braunau prägten, wollte Weber mehr Materialien sichten als die bis dahin bekannten dürftigen Postkartengrüße oder die altbekannten Kalenderweisheiten aus „Mein Kampf“.

Sensationeller Fund

Darin wurde ja die Legende vom fest zusammengeschweißten, solidarischen Mikrokosmos der tapferen Frontkämpfer gepflegt, die im Schützengraben den entbehrungsreichen Kampf ums Dasein kennenlernten, dann jedoch von angeblichen antisemitischen Umtrieben und Dolchstoßattacken radikalisiert wurden und so fürs Leben geprägt waren. Historische Dokumente über das Reservebataillon List, in dem Hitler an der Westfront in Flandern und Nordfrankreich diente und die Schlacht bei Ypern erlebte, schienen nicht zu existieren: Kein anderer Historiker, auch nicht der Monumental-Biograf und Hitler-Spezialist Ian Kershaw, hatte Zugriff auf das umfangreiche Archiv gehabt, das Weber erst durch einen Zufall in München entdeckte: Es war ein über achtzig Jahre alter Staubfänger, der in einem abgelegenen Bereich des Hauptstaatsarchivs irgendwie falsch einsortiert war – Gefechtsberichte, Briefe, Erinnerungen, Tagebücher, Prozessberichte usw. Ein sensationeller Fund, der den Alltag an der Front ebenso detailliert nachvollziehbar macht wie das Beziehungsgeflecht der Soldaten, in dem Hitler keineswegs die imposante, mutige Führerfigur war, als die er sich selbst darstellte oder später von der Parteipropaganda verklären ließ. Die offizielle, längst bekannte 1932 veröffentlichte Geschichte des List-Regiments hat zwar einen Umfang von fast fünfhundert Seiten, sie enthalte jedoch nur spärliche Hinweise auf Hitler, wie Weber anmerkt. Ein weiteres Indiz dafür, dass Hitler in seiner Kompanie eher eine graue Maus war und keineswegs die begnadete heldenhafte Führernatur.

Webers Impetus, als Korrektor herkömmlicher historischer Thesen und Sichtweisen aktiv zu werden und die üblichen akademischen Pfade zu verlassen, ist zwar äußerst sympathisch. Aber bei dieser Denkmaldemontage geht er auch das Risiko ein, gelegentlich über das Ziel hinauszuschießen und extreme Alternativen anzubieten: Hier etwa den feigen Bürohengst Hitler vorzuführen, anstatt weiterhin das Klischee vom tapferen Frontkämpfer zu bedienen.

Demontage von Legenden

Aber inwieweit kann man über das kollektive Kämpferverhalten dieser Frontsoldaten und ihren Alltag ein individuelles Psychogramm des Gefreiten Hitler erstellen? Reicht es aus, nur auf Hitlers Einsatz als Meldegänger zum Regimentsstab zu verweisen und daraus zu schließen, der Mann aus Braunau, der mit dem k. u. k. System abgeschlossen hatte und sich in Bayern als Freiwilliger meldete, sei ein eher feiges Etappenschwein gewesen, weil diese Meldegänge ja nie direkt an die Front geführt hätten, sondern eben nur zu den weiter entfernt liegenden Kommandostäben drei Kilometer hinter der Front, wo die Soldaten weder Scharfschützen noch dem mörderischen MG-Feuer ausgesetzt waren? Immerhin war Hitler ja zweimal ziemlich schwer verwundet worden: durch einen Granatsplitter (Somme-Schlacht, Oktober 1916) und einen Gasangriff 1918. Außerdem hatte er zusammen mit einem anderen Soldaten den unter Beschuss genommenen Kommandeur im Kugelhagel gerettet.

Die Wahrheit dürfte mal wieder in der Mitte liegen: Hitler war wohl weder der von der Nazi-Propaganda idealisierte heroische Frontkämpfer noch das von Weber dargestellte feige Etappenschwein, das sich die Auszeichnung mit dem Eisernen Kreuz mit Hilfe seiner guten Connections zu höheren Offizieren erschlichen hat.

Beeindruckend ist zwar, mit welcher Akribie Weber Diskrepanzen, Entstellungen, Idealisierungen und drastische Realitätsverzerrungen herausarbeitet, um Fakt und Fiktion zu unterscheiden. Aber war es nicht bekannt oder vorhersehbar, dass Hitler seine eigene Rolle immer ins Unermessliche aufgeblasen hat und sich vor allem während des Zweiten Weltkriegs zum Heros von 1914 bis 1918 hochstilisierte, der in Flandern damals in überfluteten Schützengräben bis zum Umfallen kämpfte – was ja einfach nur eine unsinnige Lebenslüge war?

Weber weist auch auf Hitlers Kritik am Panzergeneral Guderian hin, der während des Russlandfeldzugs für den Rückzug plädierte, woraufhin Hitler erwiderte, damals in Flandern hätten sie sich an der Front mit Granatwerfern große Krater zurechtgeschossen, in denen sie sich eingraben und bequem überwintern konnten – wieder eine fantasievolle Anekdote aus dem Reich seiner Wunschträume.

Diese Übertreibungen, Projektionen und Glorifizierungen Hitlers hinsichtlich des Ersten Weltkriegs sind vielleicht signifikanter als die von Weber eruierten Statistiken, mit denen er die schichtspezifischen Aspekte des List-Regiments aufschlüsseln will und Berufsgruppen, akademische Ausbildung usw. aufbröselt, um eine soziologisch homogene Struktur nachzuweisen, die zu Hitlers angeblicher Radikalisierung oder seinen antisemitischen Dolchstoßfantasien überhaupt nichts beitragen konnte. Die jüdischen Kriegsteilnehmer – auch die Offiziere – waren jedenfalls bestens im Regiment integriert.

Webers akribische Recherchen bringen allerdings auch ans Licht, wie brutal Hitler alle diejenigen nach seiner Machtergreifung bestrafen ließ, die seiner Legende von den entscheidenden Frontkämpferjahren („meine Universität“) widersprachen. Schließlich sollen ihn diese radikalen, verstörenden Kriegserfahrungen dazu veranlasst haben, Politiker zu werden. Stimmt die Legende nicht, dann könnte ja leicht der Eindruck entstehen, der verkrachte Postkartenmaler habe als letzten Karriereausweg nur noch den eines Politikerdaseins mit eher diffusen Zielvorstellungen gesehen. Aber mit dieser harschen Realität konnte sich der Anstreicher aus Braunau natürlich nie abfinden.

Fazit: Eine spannende Studie, die alte Legenden demontiert, neue Aspekte aus Hitlers Frontkämpferdasein zeigt, aber vielleicht zu viel auf einmal beweisen will.

Peter Münder

Thomas Weber: Hitlers Erster Krieg. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. München: Propyläen Verlag 2011. 586 Seiten. 24,99 Euro.
Vgl. auch: Sebastian Haffner: Anmerkungen zu Hitler. München 1978. 204 Seiten.
Othmar Plöckinger: Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers Mein Kampf 1922-1945. Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2006. 632 Seiten.