Geschrieben am 31. Januar 2005 von für Bücher, Litmag

Thomas Weiss: Schmitz

Etwas kommt dazwischen

In „Schmitz“ erzählt Thomas Weiss von einem Hinterbliebenen, dessen Frau bei einem Flugzeugunglück über dem Bodensee ums Leben kam und den Auswirkungen, die ein solches Ereignis auf die Psyche hat.

Thomas Weiss, 1964 in Stuttgart geboren und mittlerweile im obligatorischen Berlin lebend, hat sich in seinem Debütwerk der alltäglichen Katastrophe angenommen. Alltäglich wie der Name seines Helden „Schmitz“ sind die Unglücksfälle, die Mitmenschen unvermittelt aus dem Leben reißen, die Autounfälle, Motorradunfälle, Flugzeugabstürze, Unwetterkatastrophen, Erdbeben, Bombenattentate. Jemand verlässt das Haus auf dem Weg zur Arbeit oder in den Urlaub, verabschiedet sich wie immer von den Lieben, geht vielleicht auch im Streit. Es ist ein ganz normaler Vorgang, doch etwas ist anders, etwas kommt dazwischen und stört den normalen Lauf der Dinge.

Zerstörerische Katastrophe

Thomas Weiss lässt dieses „Etwas“ das Leben von Schmitz zerstören und bedient sich dabei eines Flugzeugunglücks, das in unserer Erinnerung noch sehr präsent ist und die Schweizer Flugsicherung in arge Bedrängnis brachte. Schmitz hat seine Frau Hanna bei der Kollision zweier Flugzeuge über dem Bodensee verloren. Das Unglück hat seine Seele buchstäblich zerrissen, ihm den Halt im realen Leben genommen: Der Schock und die Einsamkeit haben dazu geführt, dass er sich immer häufiger selbst begegnet. Eine Persönlichkeitsspaltung, die weit über Selbstgespräche hinausgeht, ermöglicht Weiss raffinierte stilistische Kniffe, um die Auswirkungen eines solchen Unglücksfalls auf die menschliche Psyche zu beleuchten. Da beäugt der Küchenschmitz argwöhnisch das Treiben des Sofaschmitz, da beobachtet Schmitz an sich selbst, dass er immer weniger auf sein Erscheinungsbild achtet und der Versuchung des Alkohols nur allzu gern nachgeben möchte. Der Jahrestag des Unglücks steht bevor und Schmitz erinnert sich an den Tag, an dem er seine Frau vom Flughafen abholen wollte, an den Tag, an dem der für ihre Begrüßung zubereitete Wurstsalat auf dem Tisch vergammeln wird. Eindrucksvoll schildert Weiss den Weg zum Flughafen, Schmitz’ ungutes Gefühl, für das es gar keinen Grund zu geben scheint. Da ist die Tafel, auf der eine Verspätung angezeigt wird, da ist die Ansage, sich beim Informationsschalter zu melden, da sind die verzweifelten Gesichter vor dem Info-Schalter, da ist die panische Flucht aus dem Flughafengebäude, die verzweifelte Fahrt mit dem Auto zum Unglücksort. Ohne zu dick aufzutragen, vermag es Weiss, die Gefühlspalette von Unglauben über Verzweiflung hin zu blinder Wut und Resignation in Worte zu fassen. Schmitz flüchtet sich in völlig unsinnige Schuldgefühle: Wenn er nicht vor etlichen Jahren die Handtasche seiner Frau genommen hätte, als diese einer strauchelnden Frau zu Hilfe eilte, wäre nie die Urlaubsfreundschaft entstanden, wegen der seine Frau überhaupt in jenem Flugzeug saß… – er hätte sie bitten können, nicht zu fliegen, er hätte eine Panne auf dem Weg zum Flughafen haben können. Fieberhaft sucht er nach dem Moment, die Abzweigung in ihrem gemeinsamen Leben, an dem die Weichen für das Unglück gestellt wurden.

Ein „Etwas“ langweilt sich

Er versucht, dieses „Etwas“, das den Lauf der Dinge gestört hat, auszumachen, personifiziert es: „Man weiß nie, sagt Schmitz, wann einem etwas dazwischenkommt. Das ist nicht vorhersehbar. Das ist ein Augenblick, ein Zufall. Etwas hat nichts zu tun, ihm ist langweilig, da denkt es, dass es höchste Zeit wird. Irgendwo stehen welche herum, die ahnen nichts, die wissen nichts, plötzlich fährt Etwas dazwischen, dass sie auseinander spritzen.“ Schmitz fühlt sich amputiert ohne Hannah, eine Prothese will er nicht haben.
Der spektakuläre Unglücksfall, dessen sich Weiss bedient, erlaubt ihm nebenbei noch die Anklage des pietätlosen Umgangs der Medien mit den Hinterbliebenen solcher Tragödien. In grenzenloser Sensationsgier fallen die Reporter über Schmitz her.
Schmitz entschließt sich, zum Jahrestag die Unglücksstelle aufzusuchen, bricht mit einer Hand voll zusammenphantasierter Gestalten in seinem Auto auf. Bei einem Zwischenstopp treffen sie auf einen alten Bekannten: Etwas. Und Etwas steigt mit in das Auto…

Thomas Weiss kann über weite Strecken des Debüts überzeugen, auch wenn die Persönlichkeitsspaltung seines Protagonisten nicht in allen Konsequenzen schlüssig ist. Sein Tonfall erinnert ein wenig an Nina Jäckles überragende Erzählung „Noll“, auch wenn er deren hochgradige Melodik nicht erreicht. Mit seinem Sujet ist er ein großes Wagnis eingegangen – und es hat sich gelohnt.

Frank Schorneck

Thomas Weiss: Schmitz. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt. 2004. Geb. 127 S. 15,90 Euro. ISBN 3627001168