Geschrieben am 2. März 2011 von für Bücher, Litmag

Timo Berger (Hrsg.): Neues vom Fluss. Junge Literatur aus Argentinien, Uruguay und Paraguay

Geschichten vom Silberfluss

– Nackt bis auf die Sonnenbrille und ihrer Wirkung gewiss, schreitet eine junge Frau durch die belebteste Einkaufsstraße von Paraguays Hauptstadt Asunción. Welche Turbulenzen sie erzeugt, schildert Ana María Strahms Erzählung „Calle Palma“ mit fühlbarem Vergnügen, die Motive der Blitzerin werden jedoch nur angedeutet. So schwebt trotz aller Entblößung ein zarter Schleier über dem Text, was ihm sehr bekommt. Dass die Schöne es auch auf das Cover schaffte, ganz ohne Schleier, versteht sich von selbst.

Der Fluss, auf den der Titel anspielt, ist der Rio de la Plata, Lebensader dreier Staaten: Argentinien, Paraguay, Uruguay. Zwei kleine Länder, ein gewaltiges. Aus ihnen stammen die 28 Geschichten, die Timo Berger hier zusammengetragen hat. Neu sind sie nicht nur, weil sie zum ersten Mal auf Deutsch erscheinen, sondern weil sie von jungen Autoren stammen.

Neulinge im Handwerk sind diese Erzähler aber offenbar nicht. Alle wissen sie zu fesseln und Effekte zu setzen. Gleich die ersten beiden stories „Mörderische Schönheit“ und „I want to be fat“ sind so grell, unterhaltsam und unerschrocken, wie man es erwartet. Am anderen Ende der Skala stehen die beiden Erzählungen, die den Band beschließen: Die beinahe sachliche „Kurze Geschichte der Wirklichkeit“ von Ramiro Sanchiz stammt aus Uruguay, scheint aber in ihrem Mix aus Phantastik und Historie vom Argentinier Borges inspiriert. Virtuos mit einer pseudonaiven Kinderperspektive spielt „Bei uns zu Hause“ von Fernanda Trías. Sie sorgt für ein letztes, lakonisch-unterkühltes Ausrufezeichen, mit dem der Leser entlassen wird.

Themen wie Formen wie Tonlagen also in schönster Vielfalt. Und so unterschiedlich die Geschichten sein mögen: auffällig, wohltuend und intensiv ist der Wirklichkeitsbezug dieser Literatur. Da passiert was, und auch wenn es das Unmögliche ist, hat es doch mit der Realität Südamerikas zu tun. Sex, Drogen, Unterdrückung, Musik, Gewalt, Armut, Reichtum, Eifersucht und Tod: alles vorhanden, aber ohne Jammerton. „Das Gefasel des melancholischen Rockers“ (von Montserrat Álvarez) heißt eine der schönsten Geschichten, die zwischendurch ein bisschen stark auf die Tube drückt, aber sich insgesamt auf angenehmste Weise  selbst auf die Schippe nimmt. „Diese Welt ist dermaßen heimtückisch, dass Scheitern das einzige ist, für das man sich nicht schämen muss“, lautet ihr Schlusssatz.

Fernanda Trías

Großes Quantum Wahrheit

Solche Einsichten sind auch in Europa wahr und könnten auch hier formuliert werden. Überhaupt klingt vieles nicht so grundsätzlich anders und ozeanweit entfernt, wie man vielleicht erwartet. Die jungen Heldinnen und Helden besitzen ein Handy, wollen sich ein Tattoo machen lassen und jagen dem Glück nach, teils insgeheim, teils öffentlich und hektisch. Sie lieben und töten. All dies erscheint drängender, vitaler, risikoreicher als in deutschen Geschichten. Vilém Flussers berühmtes Wort vom „rasenden Stillstand“, der unsere Zeit kennzeichne, trüge hier den Akzent eher auf dem Adjektiv.

Geht man das Verzeichnis der Autoren durch, fällt auf, wie viele auch Lyriker sind. Nicht wenige betreiben ihr eigenes Blog. Die meisten leben in den großen Städten. Einige haben die Auswirkungen der Diktaturen direkt oder indirekt zu spüren bekommen, der Argentinier Félix Brussone etwa ist Sohn von „Verschwundenen“. Ezequiel Alemáns Geschichte einer Flucht heißt zwar „Paraguay“, aber der Name ist Teil der Fiktion, der Text ist nicht realistisch erzählt und vermittelt doch eindrucksvoll das Klima fortdauernder Willkür und die Ohnmacht des Einzelnen.

So munter und freizügig, wie das Cover es erwarten lässt, sind also weder die Erzählungen noch die sich in ihnen spiegelnde Wirklichkeit; nach allem, was wir über diesen Halbkontinent wissen, wäre das auch unmöglich. Dafür entschädigt das reichliche Quantum Wahrheit, das der Fluss mit sich führt.

Gisela Trahms

Timo Berger (Hrsg.):  Neues vom Fluss. Junge Literatur aus Argentinien, Uruguay und Paraguay. Übersetzt von Studenten des Fachbereichs Translation der Universität Mainz. Kartoniert. Berlin: Verlag Lettrétage 2010, 200 Seiten. 12,90 Euro.