Jugendliteratur – auch für Erwachsene
– Wo endet die Jugendliteratur – und wo fängt die für Erwachsene an? Der Grenzbereich zwischen Jung und Älter war in den letzten Jahren für viele Verlage ein lukratives Pflaster: Jede Menge „Erwachsenenbestseller“ operierten mit Schreibstrategien der Jugendliteratur – und Jugendromane waren häufig mit zunehmend erwachsenen Themen und Schreibweisen erfolgreich. Vikki Wakefield, Harlan Coben, Joe R. Lansdale, Zoran Drvenkar – vier Autoren mit ihren aktuellen Romanen aus dem „Dazwischen“. Ein Scan von Ulrich Noller.
Vikki Wakefield: Alles, was ich will
Vikki Wakefield zelebriert den urbanen Trash. Genauer gesagt: den australian urban trash. Alleinerziehende Mütter, heruntergekommene Häuser, Trinker, Irre, Dealer, vermüllte Straßen, Psychowracks – das ist das Milieu, in dem die in Adelaide lebende Autorin ihren Roman „Alles, was ich will“ spielen lässt.
Mim, 16, hat sich vorgenommen, alles besser zu machen als alle anderen um sie herum. Sie will raus, sie will anders bleiben. Weil ihre großen Brüder im Knast sitzen, muss sie eines Tages aber für die dealende Mutter ein Paket mit „Glückspillen“ beim Großhändler abholen – und gerät voll in den Schlamassel, als ihr auf dem Heimweg ausgerechnet Jordan Mullen, der Junge, den sie verehrt, das Paket abnimmt. Aber Mim weiß sich zu helfen …
Vikki Wakefield, so deutet der Verlag an, schreibt deshalb so authentisch, weil vieles von dem, was sie beschreibt, autobiografisch inspiriert ist. Man merkt, dass sie sich auskennt, und „Alles, was ich will“ ist auf jeden Fall sehr lesenswert: eine klasse Heldin, der man gerne folgt, viel trockener Witz und die Story birgt eine sich schön langsam, dann aber gewaltig entfaltende Dynamik. Als Coming of Age-Geschichte ein guter Jugendroman, als luftige Milieuskizze lesenswerter Stoff für Erwachsene.
Joe R. Lansdale: Ein feiner dunkler Riss
In Richtung Lumpenproletariat schaut auch Joe R. Lansdale in seinem großartigen Jugendroman „Ein feiner, dunkler Riss“. Wobei: Die Mitchels haben sich hochgearbeitet; als sie Ende der 1950er Jahre nach Dewmont, Texas, ziehen, übernehmen sie das dortige Autokino, der Vater hat jahrelang als Automechaniker hart gearbeitet und gespart. Adieu Unterklasse, jetzt lebt man eine Sprosse höher …
Im Zentrum der Story steht Stanley, 13. Am Anfang des Sommers, in dem das Ganze spielt, war er noch ein Kind, am Ende wird er (fast) erwachsen sein. Dazwischen jede Menge Geheimnisse, die entdeckt und zum Teil auch aufgeklärt werden müssen: ein abgebranntes Spukhaus hinter dem Autokino, zwei tote Mädchen, eine schwarze Haushaltshilfe, die von ihrem Mann zum Anschaffen gezwungen wird – und ein gefährlich nahestehender Mann, der möglicherweise viele Menschen auf dem Gewissen hat …
Die Spannungen zwischen Schwarz und Weiß, die Bigotterie der 1950er Jahre, die armselige Kleinbürgerlichkeit – brillant wie Joe R. Lansdale dies in seinem Zeit- und Sittenporträt einfängt und dabei zugleich doch einen veritablen Abenteuerroman hinlegt, der Luft und Freiheit und wildes Leben atmet. Ein Country Noir für hart gesottene Jugendliche und abenteuerlustige Erwachsene. (Siehe auch die Besprechung von Thomas Wörtche in den Bloody Chops).
Harlan Coben: Nur zu deinem Schutz
Harlan Coben ist einer der geschicktesten Spannungsautoren im Mainstreambereich, seine Plots und Dramaturgien sind vom Feinsten. Das belegt auch „Nur zu deinem Schutz“, sein aktueller Jugendroman, der Mickey Bolitar, den Neffen von Myrton Bolitar, einem von Cobens Erwachsenenhelden, als Held einer neuen Reihe etabliert.
Mickey ist bei Myrton untergekommen, nachdem sein Vater bei einem Verkehrsunfall starb, was die Mutter so traumatisierte, dass sie zum Junkie wurde. Eigentlich soll Mickey versuchen, irgendwie trotz allem ein normales Leben zu führen. Was unter den genannten Umständen sowieso nicht ganz einfach ist, insbesondere aber dann, wenn das einzige Mädchen, mit dem man anfangs am neuen Collage Kontakt hat, nach ein paar Tagen spurlos verschwindet. Als wäre das nicht genug, raunt eine merkwürdige alte Frau Mickey vom Typus „Hexe“ auch noch zu, dass sein Vater gar nicht tot sei, und sie wirkt dabei merkwürdig glaubwürdig. Mickey, der kein Feigling ist, beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen, zusammen mit zwei, drei schrulligen Außenseitern von der Schule. Natürlich laufen die beiden Stränge bald aufeinander zu …
Harlan Coben schreibt astreine Jugendliteratur, mit tollen Figuren, gutem Humor und hübschen Wendungen. Wie er die Story schweifen und mäandern und schließlich sogar bis zurück zum Holocaust führen lässt, das hat Klasse. Weil Coben weiß, dass man den Kids im Medienzeitalter etwas bieten muss, plottet er großes Kino mit vielen Tricks und Kniffen aus der High-End-Erwachsenenspannungsliteratur. Genau deshalb können auch die Großen diesen Jugendroman auch mit diesem speziellen Vergnügen lesen, das einen im Herzen für einen Abend noch mal ein paar Jahrzehnte jünger werden lässt.
Zoran Drvenkar: Der letzte Engel
Wie kein anderer wird er von der Zwischenzeit bewegt, in der man nicht mehr Kind, noch nicht Erwachsener ist, vom Jungsein in allen Schattierungen und Varianten: Zoran Drvenkar, der in einer alten Mühle nahe Potsdam lebt, arbeitet sich sowohl in seinen Jugendromanen wie auch in denen, die sich dezidiert an Erwachsene richten, an dieser Frage ab; junge Erwachsene stehen im Zentrum all seiner wichtigen Geschichten; er umkreist, umgarnt, umdenkt, umwirbt dieses Thema mit Figuren, Themen, Schreibweisen unermüdlich, fast manisch.
In „Der letzte Engel“, Drvenkars aktuellem Roman, geht es im Kern vieler Plots und Geschichten um Motte, 16, der abends eine E-Mail erhält, in der ein Unbekannter ihm mitteilt, dass er morgens tot sein wird. Nicht mausetot im klassischen Sinne, das erläutert noch ein digitaler Nachtrag, nein, Motte wird ein Engel sein, genauer gesagt: der letzte Engel. Was am nächsten Morgen tatsächlich genau so passiert, und damit verbindet sich die fantastische Ebene dieser Geschichte mit ihren Anteilen eines Spannungs- und Kriminalromans: Zusammen mit ein paar Freunden muss Motte herausfinden, was es mit seiner Verwandlung auf sich hat, wer er eigentlich ist, woher alles kommt, wohin es führen wird. Dabei muss er gegen eine Gruppe von Söldnern bestehen, die nur eine Aufgabe hat: auch den letzten Engel zu töten. Und damit schießt die Story in die eine oder andere ungeahnte Dimension …
In „Der letzte Engel“ mischt Zoran Drvenkar Elemente verschiedenster Genres wild und unbefangen und lässt daraus etwas völlig Neues, Ungekanntes entstehen. Wie immer ist er millimeternahe dran am Denken und am Fühlen seiner Helden, und es ist beeindruckend, wie er dies Nahedransein sprachlich transportiert. Einzigartig macht das Ganze letztlich die Konstruktion: Wie diese Geschichte samt ihrer Helden zwischen Zeiten, Perspektiven, Erzählhaltungen, Dramaturgien und Spannungsbögen oszilliert, das hat man so noch nicht gelesen. Ich zumindest nicht. Ziemlich komplex und verschachtelt, das muss man natürlich mögen, aber wenn man solch ein Schreiben schätzt, ist diese Geschichte aufregend auf grandiose Weise. Wenn im Jahr 2187 jemand nach den Vorläufern der Literatur des 21. Jahrhunderts fragt – „Der letzte Engel“ wird auf dieser Liste ganz vorne stehen.
Ulrich Noller
Vikki Wakefield: Alles, was ich will. Aus dem australischen Englisch von Birgit Schmitz. Bloomsbury Taschenbuch 2012. 240 Seiten. 8,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
Joe R. Lansdale: Ein feiner dunkler Riss. Roman. Deutsch von Heide Franck. Golkonda Verlag, Berlin 2012. 275 Seiten, 16,90 Euro.Verlagsinformationen zum Buch.
Harlan Coben: Nur zu deinem Schutz. Übersetzt von Anja Galic. CBT 2012. 352 Seiten. 14,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
Zoran Drvenkar: Der letzte Engel. CBJ 2012. 432 Seiten. 16,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.