Geschrieben am 20. August 2014 von für Bücher, Litmag

Ulrich Nollers Bestseller-Check

Weidermann_OstendeGeschichte, Geschichten und Geschichtchen

– Neues aus den literarischen Bestsellerlisten: Volker Weidermann nähert sich deutschen Exilautoren, die im Sommer 1936 in Ostende Urlaub machten; Marc Elsberg zeichnet ein so düsteres wie plakatives Bild der digitalen Überwachung; Stewart O’Nan seziert Szenen einer Ehe; Jojo Moyes liefert eine Sozialschmonzette, die mit allen Mitteln auf Gerührtheit setzt; Ildikó von Kürthy schreibt zum x-ten Mal die gleiche Geschichte; Hanns-Josef Ortheil ist mit einer ganz persönlichen Berlin-Reise erfolgreich und Leonardo Padura reißt als heimlicher Bestseller am Ende alles raus … Von Ulrich Noller

Stefan Zweig, Joseph Roth, Irmgard Keun und andere – im Sommer 1934 trafen einige berühmte Vertreter der deutschsprachigen (Exil-)Literatur im belgischen Seebad Ostende aufeinander, um ein paar Wochen Sommerfrische zu genießen. Während wenige Kilometer entfernt hinter der deutsch-belgischen Grenze die Nazis ihre Diktatur festigten, versuchten sich die unerwünschten AutorInnen an so etwas wie Normalität, wie in den Jahren vor der NS-Herrschaft, vergeblich natürlich. Volker Weidermann, Kulturchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, zeichnet in seinem Buch „Ostende 1936. Sommer der Freundschaft“ (Kiepenheuer & Witsch, 17,99 Euro) auf Basis recherchierter Fakten mit fiktionalen Mitteln ein Bild dieser Wochen an der See; er erzählt von Liebe, Verzweiflung, Hoffnung, vom Schreiben, vom Verarmen, vom Verlassenwerden. Ein schmales Buch mit Essenz und Ausstrahlung, das insbesondere auch von der Begeisterung des Autors für sein Thema lebt.

Elsberg_zeroSchreckliche neue Welt: Autoren sogenannter „dystopischer“ Geschichten, etwa zum Thema der digitalen Überwachung, haben es derzeit nicht einfach, weil die Snowden-Realität die verrücktesten Einfälle täglich links zu überholen scheint. Marc Elsberg, ehemaliger Journalist, hält dem Druck mit seinem Roman „Zero. Sie wissen, was du tust“ (Blanvalet, 19,99 Euro) stand: Er hat brillant recherchiert, was den neuesten Stand technischer Möglichkeiten angeht, und er spitzt so gekonnt zu, dass man – trotz täglicher Gewöhnung – schaudert angesichts der Manipulations- und Kontrollmöglichkeiten der digitalen (nahen) Zukunft. Leider kann die eher unterkomplexe Story nicht mithalten, ebenso wenig die Sprache, und die Figurenzeichnung ist derart plakativ, dass man sich alles in allem fragt: Ist es möglicherweise so weit, dass – wie längst angekündigt – Maschinen auch schon Geschichten schreiben können?

Stewart ONan_Die ChanceGanz anders, nämlich hoch filigran operiert Stewart O’Nan in „Die Chance“ (Rowohlt, 19,95 Euro), einem novellenhaften Roman, der eigentlich eine ganz simple Geschichte erzählt: Marian und Arthur, Mittfünfziger, machen sich nach vielen Jahren nochmal auf; per Bus zu den Niagara-Fällen, auf den Spuren ihrer Hochzeitsreise. Diesmal allerdings unter ganz anderen Vorzeichen: Die Kinder sind aus dem Haus, die beiden sind pleite, Opfer der Finanzkrise. Sie haben ihre letzten Ersparnisse zusammengekratzt, um am Roulettetisch einen Ausweg zu suchen – und das Wochenende ist möglicherweise die letzte Chance für ihre Beziehung. Hofft er zumindest, während sie alles nur möglichst anständig hinter sich bringen will. Szenen einer Ehe, und wie Stewart O’Nan diese Augenblicke seziert, das ist die hohe Kunst des „kleinen“ Erzählens: Exakt, pointiert, elegant – und mit einer liebevoll-spöttischen Nähe zu den Charakteren, die einen für alle drei, den Autor und seine Charaktere, gleichermaßen einnimmt. Beeindruckend – und beruhigend: Nein, völlig klar, so werden auch noch so smarte Algorithmen niemals texten können.

Moyes_weit wegHier der Kitsch, da die Kunst, früher gab es in der Literatur klare unterscheidbare Qualitätszuschreibungen, Ausnahmen bestätigen die Regel. Heute haben sich diese Grenzen verwischt, Kunst und Kitsch, das geht miteinander, parallel, sich ergänzend, mitunter kaum unterscheidbar. Was auch daran liegt, dass die Unterhaltungsliteratur intelligent aufgerüstet hat – dann, wenn sie gut ist, zumindest. So wie zum Beispiel die englische Autorin Jojo Moyes, geboren 1969, deren dritter Roman „Weit weg und ganz nah“ (Rowohlt, 14,99 Euro) kurz nach Erscheinen die Spitze der Paperback-Charts erklommen hat. Eine allein erziehende Putzfrau samt Nebenjob in der Kneipe „leiht“ sich in dieser Geschichte von einem komatös besoffenen IT-Jungunternehmer, den sie netterweise mit dem Taxi nach Hause bringt, ein paar Tausend Pfund, um das Schulgeld ihrer hochbegabten Tochter berappen zu können. Verzwickterweise treffen die beiden ein paar Tage später wieder aufeinander und landen samt der Kinder auch noch in einer liebenswert-chaotische Roadnovell, bei der sie sich, klar, allen Hindernissen zum Trotz ineinander verlieben werden. „Weit weg und ganz nah“ ist Kitsch pur und eine (Sozial-)Schmonzette reinsten Wassers, Jojo Moyes lässt kein abgenutztes Klischee und keinen billigen Trick aus, um bei ihren LeserInnen Rührung zu erzeugen. Wie sie das tut – eben als Roadnovell, mit Mitteln des Familienromans, sehr verschmitzt auch – das ist allerdings intelligent gemacht. Kitsch auf der Höhe der Zeit.

U1_XXX.inddDas ganze Gegenteil verkörpert lldikó von Kürthys neuer Roman „Sternschanze“ (Wunderlich, Euro 17,95), der auch mal wieder ganz dicke dabei ist im Geschäft mit den Geschichten. Wobei: Man müsste in diesem Fall wohl eher von Geschichtchen sprechen, schließlich variiert diese Autorin im Prinzip lediglich ein- und dasselbe Muster von der vom Leben hart geprüften Erfolgsfrau (mit schwulem Kumpel) auf dem Weg zum (neuen) Glück. Erstaunlich ist, dass ihr die Leserinnen das immer wieder so massenhaft abkaufen, obwohl lldikó von Kürthy stilistisch hart an der Grenze zur Unerträglichkeit operiert. Sagen wir so: Ein perfektes Geschenk für Freundinnen, die man im Prinzip schon lange nicht mehr ertragen kann.

ortheil_berlinreiseAuf dem Weg nach oben: „Die Berlinreise“ (Luchterhand, Euro 16,99), der neue Roman von Hanns-Josef Ortheil. Ortheil, geboren 1951, ist einer der erfolgreichsten und besten Gegenwartsschriftsteller Deutschlands. In „Die Berlinreise“ schildert er eine Fahrt, die er 1963 mit seinem Vater von Köln aus in die Hauptstadt unternahm, basierend auf Notizen, die er seinerzeit anfertigte. Die Reise wird zur Spurensuche im doppelten Sinn: Der – genau beobachtende – 12-Jährige erkundet Familiengeheimnisse, die mit der Kriegszeit und seinen vier verstorbenen Brüdern zu tun haben; zugleich nimmt man als Leser staunend die Perspektive des heute 63-jährigen Autors ein und schaut zurück auf die Prägungen seiner Kindheit. Abgesehen davon erlaubt „Die Berlinreise“ einen sehr unverstellten Blick aufs Berlin der Nachkriegszeit – alles zusammen anrührend und spannend.

00_Padura_Ketzer.inddBleibt noch ein heimlicher Bestseller, kein Megaseller, doch ständig im Gespräch und Empfehlung vieler Buchhändler: „Ketzer“ (Unionsverlag, Euro 24,95) von Leonardo Padura. Basierend auf historischen Ereignissen entwirft der kubanische Autor, der in diesem Jahr 60 wird, eine große Geschichte, die Jahrhunderte, Welten und (politische) Zeitalter umfasst: Im Jahr 1939 wartet im Hafen von Havanna ein Dampfer mit 937 jüdischen Flüchtlingen auf die Einreisegenehmigung. Die wird allerdings verweigert, bloß das – wertvolle – Bild eines alten holländischen Meisters, das einer der Flüchtlinge im Gepäck hatte, findet erstaunlicherweise den Weg an Land. Die Flüchtlinge werden zurück nach Europa geschickt, die meisten fallen dem Holocaust zu Opfer, das Bild taucht im Jahr 2007 bei einer Auktion wieder auf, und damit beginnt die Fiktion. Der Roman erzählt in drei Abschnitten parallel zur Geschichte des Bildes die der Menschen, die in irgendeiner Weise mit ihm zu tun haben, vom 17. Jahrhundert in Holland bis zur Gegenwart in Kuba – in der Paduras Detektiv Mario Conde ermittelt, wie das Bild vom Schiff auf die Insel und schließlich zur Auktion gelangte. Das Ergebnis: Ein dramatischer und prallvoller Roman, der die reale Geschichte auf blendende Weise in Geschichten verwandelt. „Ketzer“ ist hier und da vielleicht etwas weitschweifig – alles in allem jedoch eine großartige (Sommer-) Lektüre, deren Bilder lange im Gedächtnis verharren.

Ulrich Noller

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