Pointiertes Gesellschafts-Mosaik
– Rund 400 „Streichholzbriefchen“ hat der im Februar letzten Jahres verstorbene Umberto Eco für das römische Nachrichtenmagazin „L’Espresso“ seit 1985 geschrieben. In diesen kurzen Kolumnen, von denen der Hanser-Verlag jetzt unter dem Titel „Pape Satán“ eine Auswahl vorlegt, beleuchtet der Schriftsteller und Wissenschaftler aktuelle gesellschaftliche Phänomene und Tendenzen. Von Karsten Herrmann.
Ein zentrales Thema der zwei bis drei Seiten umfassenden Miniaturen ist die von Zygmunt Baumann diagnostizierte „flüssige Gesellschaft“, in der nach dem Ende der Utopien alles ineinander zu verschwimmen droht und niemand mehr weiß, wohin es gehen soll. Ein aktuelles Symptom ist dafür auch das Verschwimmen von Realität und Fiktion, das derzeit von US-Präsident Donald Trump in Vollendung praktiziert wird.
An vielen kleinen Beispielen beschreibt Eco unsere durch das Fernsehen und fast schon anachronistisch anmutenden Formaten wie „Big Brother“, aber insbesondere auch durch die neuen sozialen Medien gekennzeichnete Mediengesellschaft und ihren Trend zum Exhibitionismus. „Der Auftritt im Fernsehen ist der einzige Ersatz der Transzendenz“ und „Ich twittere, also bin ich“ konstatiert er.
In dieser schillernden Nährlösung treiben dann auch Verschwörungstheorien und Zahlen-Kabbalistik zum Beispiel rund um 9/11 sowie Ausgrenzung und Rassismus ihre morbiden Blüten. Es droht, wie Eco bemerkt, „die historische Dimension verloren zu gehen“. Und so zeigt er in einer Kolumne entgegen der allgemeinen Meinung auf, dass das Verschleierungsgebot gar nicht im Koran zu finden ist, sondern seinen Ursprung beim Christen Tertullian und später dem Apostel Paulus hat.
Darüber hinaus finden sich in den Streichholzbriefchen aber auch philosophisch-religiöse Betrachtungen, Liebeserklärungen an das Schreiben und Lesen und amüsante Reflexionen zu den alltäglichen Absurditäten.
Umberto Ecos Miniaturen sind pointiert, zuweilen überraschend, voller Esprit und lassen seinen ungeheuren enzyklopädischen Wissensschatz anklingen. Auch wenn sie häufig auf tagesaktuelle Anlässe und italienische Spezifika zurückgehen, zeichnen sie ein Mosaik unserer „verflüssigten“ Gesellschaft. Als Zeitungskolumnen eignen sie sich dabei weniger zum längeren Lesen am Stück, sondern insbesondere für ein anregendes Lesen zwischendurch, im Zug, im Café oder auf Plätzen im städtischen Gewimmel.
Karsten Herrmann
Umberto Eco: Pape Satán. Chroniken einer flüssigen Gesellschaft oder Die Kunst, die Welt zu verstehen. Übersetzt aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Hanser 2017. 220 Seiten. 20,00 Euro