Geschrieben am 13. März 2004 von für Bücher, Litmag

Walter Moers: Wilde Reise durch die Nacht

Zauberhafte Fantasiereise

Was für ein Werk! Es ist einfach kaum zu glauben: Vor rund zehn Jahren drängte eine Figur mit dem wohlklingenden Namen „das kleine Arschloch“ auf den Comic-Markt. Walter Moers, der geistige Vater des kleinen Tabubrechers, trat einen – auch durch bayrische Staatsanwaltschaften – nicht zu bremsenden Siegeszug an. Schwer vorstellbar, dass der Schöpfer des „Kleinen Arschlochs“ und des aus der „Sendung mit der Maus“ bekannten „Käpt‘n Blaubär“ ein und die selbe Person sein sollen…

Mit dem Roman „Die 13 ½ Leben des Käpt‘n Blaubär“ leitete Moers einen weiteren Sprung in seiner Karriere ein. Der 700 Seiten starke Roman ließ mit seinen zahlreichen Wortspielen, mit vielschichtigen Anspielungen auf Literatur und Tagespolitik den „Maus-Blaubären“ weit hinter sich. Ein Humor, den kleinere Kinder kaum verstehen können, macht „Die 13 ½ Leben…“ zu einem Kultbuch junger Erwachsener. Mit „Ensel und Kretel“ legte Moers noch einmal nach.

Vieles deutet also auf einen „literarischen Reifeprozess“ Moers‘ hin. Doch ein Glanzstück wie „Wilde Reise durch die Nacht“ hätte man dennoch kaum zu erhoffen gewagt. 21 Illustrationen von Gustave Doré, dem vielleicht erfolgreichsten Buch-Illustrator des neunzehnten Jahrhunderts (1832 – 1883), bilden für Moers den Ausgangspunkt für eine phantastische Reise: Moers macht die reale Figur Gustave Doré zu einer Romanfigur, den Zeichner zum Objekt seines Werkes. Der junge Gustave sticht eines Nachts in See, wo sein Schiff von Siamesischen Zwillingsstürmen heimgesucht wird. Er scheint das Kentern zu überleben, doch der Tod und dessen Schwester Dementia würfeln um seine Seele. Gustave kann seine Seele nur retten, wenn er einige schier unlösbare Aufgaben bewältigt. Riesen und Ungeheuer sind zu bezwingen, Drachen und Geister und nicht zuletzt die Zeit selbst sind zu überlisten.

Die phantastischen Abenteuer Gustaves sind natürlich Produkt der überschäumenden Phantasie Walter Moers‘. Doch die Zeichnungen Dorés – irgendwo zwischen Spätromantik und M.C. Escher – stehen dem nicht nach. Es handelt sich ursprünglich um Illustrationen zu so unterschiedlichen Werken wie Coleridges „The Rime of the Ancient Mariner“, Poes „The Raven“, Cervantes‘ „Don Quichote“ oder gar der Bibel – Illustrationen, die hier neu zusammengefügt eine vollkommen neue Geschichte ergeben.

Moers stellt mit dieser fabelhaften Interpretation der Bilder Dorés nicht nur seine schier unerschöpfliche Phantasie unter Beweis, sondern auch seinen typischen Humor. Hier werden die Drachen von den Jungfrauen gejagt und zu kosmetischen Produkten verarbeitet, hier wird ein Traum mit einem modernen Kaufhaus verglichen, hier sieht die Zeit aus wie ein geflügeltes Schwein. „Wilde Reise in die Nacht“ ist ein zauberhaftes, zutiefst philosophisches Buch – ohne auch nur eine Spur oberlehrerhaften Tonfalls. Und dem Eichborn-Verlag ist dafür zu danken, dass er das Buch nicht nur mit edlem silbernen Kopfschnitt ausgestattet, sondern vor allem ein großes Format gewählt hat, das den faszinierenden Bildern Dorés angemessene Wirkung verleiht – so wird das Buch zu einem bibliophilen Gesamtkunstwerk.

Frank Schorneck

Walter Moers: Wilde Reise durch die Nacht. Eichborn, Roman. 2001. 206 S. m. Illustr. v. Gustave Dore. 25 cm. Gebunden. 624gr. ISBN: 3-8218-0890-X 19.90 Euro.