Unverwechselbar Gibson
– Mit der „Neuromancer“-Trilogie hat er die Science Fiction der 1980er Jahre, den Begriff „Cyberspace“ und mit Cyberpunk ein Genre geprägt, das Kulturwissenschaftler in aller Welt immer noch zur Sekundärliteraturproduktion anregt. In einer Essay-Sammlung gibt William Gibson jetzt Einblick in die Ideen hinter seinen Romanen. Von Kerstin Schoof.
„Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack“ vereint die unterschiedlichsten Texte des Autors, entstanden zwischen 1989 und 2011 – Artikel für Wired, die New York Times und den Observer, Kunstkritiken, Eröffnungsreden, Vorworte für Romane und Bildbände ebenso wie eine Vorlesung an der University of British Columbia. Einführend skizziert Gibson seinen Werdegang als Schriftsteller, der im Umfeld amerikanischer SF-Fanzines begann. „Seit 1948“, eine frühere Autobiografie für seine Website, schildert seine unstete Kindheit in Virginia und den Rocky Mountains, die nach dem frühen Tod des Vaters bestimmt war durch zahlreiche Umzüge und Internatsaufenthalte.
Gibson beschreibt, wie William S. Burroughs, Jack Kerouac und Allan Ginsberg ihn herausrissen aus dem Teenie-Dasein als nerdiger Bücherwurm und sein Misstrauen gegenüber dem titelgebenden „besonderen Geschmack“ einer apokalyptischen Science Fiction und ihren mahnenden, „wirklichkeitsfremden Futuristen“ à la H.G. Wells weckten. Gibson selbst schlägt einen anderen Weg ein: SF ist die „Zukunft als Gegenwart“, eine literarische Annäherung an das Heute statt einer möglichst realistischen Prophezeiung. Seine dystopischen Romane, angesiedelt in einer von Konzernen regierten nahen Zukunft, handeln von schrägen Außenseitern, die sich die allgegenwärtigen Technologien aneignen und in den immer bedrohten, letzten Freiräumen am Rand der Städte eigene Gesellschaftsformen entwerfen. Es sind gerade diese fragilen Überlebensstrategien, die Möglichkeiten einer ganz anderen Nutzung von Technik, die ihn interessieren.
Der Cyborg im Testbild-Internet
Gibsons Technikphilosophie durchzieht den Band als roter Faden, egal ob er seine Faszination für Japan erklärt, sich mit der posthumanistischen Körperkunst Stelarcs beschäftigt oder über die Möglichkeiten des Müßiggangs im Netz sinniert. Am deutlichsten sichtbar werden seine Inspirationen in der Vorlesung „Den Cyborg googeln“, in der er auf Vannevar Bushs „Memex“ verweist. Bereits 1945 hatte der wissenschaftliche Berater Franklin Roosevelts sein Konzept des “Memory Extenders” veröffentlicht: ein Modell für den Ideenaustausch zwischen Wissenschaftlern, das u. a. das Prinzip des Hyperlinks vorwegnimmt.
Um sich die Zukunft des Internets vorzustellen, erinnert Gibson seine Kindheit in den Bergen, als der erste Fernseher als braunes Holzmöbel im Wohnzimmer stand und sich die Menschen abends nach Sendeschluss das Testbild ansahen: „Wenn ich heute durch das Netz surfe, muss ich daran denken. Das World Wide Web und seine bescheidenen Wunder sind möglicherweise kaum mehr als ein Testbild für das, was das 21. Jahrhundert als sein Medium betrachten wird“.
So ist auch die Welt des Cyberpunk, in der der Zugang zum Internet über Implantate im Gehirn funktioniert, mittlerweile zur Vergangenheit geworden. „Werden wir Computer-Chips im Kopf tragen? Vielleicht. Aber nicht sehr oft und wahrscheinlich nicht sehr lange“. Eingesetztes Silizium wirkt geradezu krude, wenn die Grenzen zwischen Computer und Nicht-Computer verschwimmen und sich das Netz mittels dezentraler Datenverarbeitung, mobilen Endgeräten und intelligenten Gegenständen zu einer permanenten Erweiterung außerhalb des Menschen entwickelt. So sieht Gibson die Menschheit „insektengleich herauskriechen […] in eine Welt, die wir selbst geschaffen haben, die wir gerade jetzt schaffen und die im Begriff steht, uns neu zu erschaffen.“
Labyrinth aus Meta-Ebenen
Jeder Essay wird von Gibson kommentiert und mit Hintergrundinformationen angereichert, so dass der Band – schon in den Originaltexten ein wilder Mix aus Verweisen, Zitaten und variierenden autobiographischen Zeitebenen – bald ein dem Autor wahrhaft angemessenes Labyrinth aus Meta-Meta-Ebenen erreicht. Des öfteren entschuldigt sich Gibson auf diese Weise auch für angebliche Mängel des Originals, z.B. seinen Werbeauftritt für den Roman „Systemneustart“ auf der New York BookExpo – „ich hatte meine Anweisungen“ – oder für die schwurbelige Länge des Essays „Meine Obsession“: „Meine Güte, dieser Artikel bräuchte dringend einen Haarschnitt!“ Gibsons Sammlung mechanischer Uhren findet hier ebenso Erwähnung wie Skip Spences selbstgeschneiderte Jeans, dessen mutige Eleganz der Autor ebenso bewundert wie sein Album „Oar“.
So fraglich die Textauswahl in manchem Einzelfall tatsächlich ausfällt, in der Zusammenschau entsteht ein eindrücklicher Einblick in das Gibson‘sche Universum. Gewisse Vorkenntnisse und die Bereitschaft, sich in dem merkwürdigen Mix aus Publikationsformen und frei flottierenden Themen treiben zu lassen, sind allerdings Voraussetzung. Auch wenn seine letzten Romane die Durchschlagkraft, die eigenwilligen Visionen aus Cyberpunk-Zeiten verloren haben – Gibsons Einschätzungen zu den Verwicklungen von Popkultur, Technik und gesellschaftlichem Wandel sind weiterhin absolut lesenswert.
William Gibson: Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack – Gedanken über die Zukunft als Gegenwart. Tropen Sachbuch, Stuttgart 2013. Titel des Originals: Distrust that Particular Flavour (2012). Aus dem Englischen von Sara und Hannes Riffel, 251 Seiten. Verlagsinformationen zum Autor und zum Buch. Website des Autors.
Video, frei online: Dokumentarfilm über William Gibson: “No Maps for These Territories” (Regisseur: Mark Neale), 87 min.