Geschrieben am 25. September 2013 von für Bücher, Litmag

William T. Vollmann: Europe Central

William_Vollmann_Europe_CentralMonumentales Manifest gegen das Vergessen

– Seien Sie gewarnt: Dieses Buch ist ein Panoptikum des Schreckens und der Grausamkeit, ein gewagter Höllentrip in das Herz der Finsternis. Erzählt wird der Zweite Weltkrieg. Die Gewalt zweier totalitärer Systeme. Die Auslöschung der Juden in Europa. Lichtblicke gibt es keine. Von Karsten Herrmann. (Ein CM-Porträt des Autors William T.Vollmann finden Sie hier.)

Auf gut 1000 Seiten und in 37 Kapiteln mit verschiedenen realen und fiktiven Personen durchmisst William T. Vollmann inklusive Prolog und Epilog die Jahre des Zweiten Weltkriegs. Die Liste Protagonisten reicht von der Lenin-Attentäterin Fanny Kaplan über Künstler wie Käthe Kollwitz und Dimitri Schostakowitsch bis zu Militärs wie General Wussow oder Friedrich Paulus, dem Verlierer von Stalingrad.

Auf avancierte Weise verbindet der US-Amerikaner mit deutschen Wurzeln in seinem Roman eine Unzahl von detailliert recherchierten und sorgsam zitierten historischen Fakten mit einer Fiktion, die in das Innerste seiner Protagonisten führt und der Frage nach ihrem Schuldigwerden nachspürt. Ziel ist, wie Vollmann im Nachwort selber ausführt, ihnen eine „poetische Gerechtigkeit“ widerfahren zu lassen.

Exemplarisch sei hierfür der Deutsche Kurt Gerstein angeführt, der als Ingenieur die Judenvernichtung willfährig technisch optimiert und sie als „Auge Gottes“ zugleich sorgsam recherchiert, dokumentiert und an die Alliierten zu verraten versucht – doch niemand will davon wissen.

Einen roten Faden in diesem kaleidoskopartigen und durch eine (Telefon-) Schaltzentrale zusammen gehaltenen Werk bildet die Geschichte von Dimitri Schostakowitsch und seiner Geliebten Elena Konstantinowskaja, die viele Menschen „so tief liebten, dass sie alle enttäuschen musste“. Als „bourgeoiser“ Künstler droht Schostakowitsch ständig in die Ungnade Stalins zu fallen und schleichend verschwindet aus seinem Umfeld einer nach dem anderen in die Verbannung oder wird hingerichtet. Auch wenn er sich schließlich gezwungen sieht „ein Oratorium der Selbstzerknirschung“ zu singen, weigert er sich standhaft in die Partei einzutreten. Seine Sinfonien werden unterdessen  zu Analogien des Krieges, seines Schlachtenlärms und seines unermesslichen Leids: „Das 8. Streichkonzert von Schostakowitsch (op. 110) ist die lebende Leiche der Musik, perfekt in seinem ganzen Schrecken.“

Monströse Meditation

„Europe Central“ beleuchtet auf erschütternde Weise die Perfidität und den Wahnsinn zweier totalitärer Regime und dringt tief in das hin- und her wogende Kriegsgeschehen, in dessen Taktik und Strategie, Technik und Metaphysik ein. Unbarmherzig und mit einer lakonisch bis leicht zynischen Grundierung zeigt er, wie die von der jeweiligen Ideologie verblendeten Menschen in dieser Maschinerie verheizt und zerrieben werden oder sich zutiefst schuldig machen: „als der Krieg zu Ende war, hatten wir allen schon dem Verderben ins Antlitz geblickt.“

William T. Vollmanns Erzählstil reicht von dokumentarisch-naturalistisch über dramatisch-expressiv bis zur surreal-mythenhaften Verklärung. Er ist geprägt von zahllosen Aussparungen, Anspielungen und Analogien, mit denen er die einzelnen Personen und historischen Umstände auch immer wieder versucht auf das Gleichnishafte und Universelle zu fokussieren.

„Europe Central“ ist eine monströse Meditation über das Leid als menschliche Grundkonstante und ein monumentales Manifest gegen das Vergessen. Glück ist in diesem Kosmos nur noch als „die Abwesenheit unangenehmen Wissens“ vorstellbar.

Karsten Herrmann

William T. Vollmann: Europe Central (Europe Central, 2005). Aus dem amerikanischen Englisch von Robin Detje. Suhrkamp 2013. 1028 Seiten. 39,95 Euro.

Tags :