An der Weser, Unterweser: Blog und Buch
– Wer Wolfgang Herrndorfs Blog folgte, wusste, womit es enden würde. Wer die Seite aufrief und keinen neuen Eintrag fand, wurde nervös. Schon in der Absicht, die Seite aufzurufen, steckte das Wissen: Er stirbt, die Hoffnung: Aber jetzt, in diesem Augenblick, lebt er noch. Herrndorf lesen drückte den Wunsch nach Teilnahme aus und entsprang einem Gefühlsgemenge, das zu analysieren man keine Lust hatte. Bestimmt würde eines Tages ein Buch aus dem Blog werden, aber zwischen 2010 und 2013 zählte das nicht. Stattdessen: Jetzt, Eintrag für Eintrag, in Echtzeit. Als gäbe es keine Grenze zwischen Leben und Schrift. Als könnte der Lesende bruchlos in die fremde Erfahrung hinüberwechseln, die der Schreibende spontan per Notebook aufgezeichnet und hochgeladen hatte.
Ein Irrtum natürlich, eine Illusion. Ein Blog ist eine Folge von Kurz- und Kürzestprosa, jeder einzelne post muss gültig formuliert und auf die bereits existierenden bezogen sein. Welches Thema nimmt er auf? Welcher Ton wird angeschlagen? Setzt er fort, verändert er das Klima? Was wird mitgeteilt, was verschwiegen? Schließlich kann der Gesamttext, im Gegensatz zum Romanmanuskript, nicht verändert und neu gruppiert werden, das empfände der Leser als Betrug. Auch im Blog macht das Können des Autors den Unterschied, nicht die Unmittelbarkeit. Niemand würde dreieinhalb Jahre lang die posts eines Sterbenden aufrufen, einzig weil er stirbt.
Nun also, seit Dezember, das Buch. Warum eigentlich? Haben wir nicht alles gelesen, steht es nicht immer noch im Netz? Was kann da neu oder anders sein?
Nicht der Text, wohl aber die Lektüre, die zur Rückwärtslektüre wird. Keine Ungewissheiten mehr, kein Warten, keine Zweifel. Keine Zentrierung mehr auf das gefürchtete Ende. Wir sind im Danach und überschauen ein Ganzes, in dem sich die Zeit verdichtet und die drei Jahre wirken wie eins. Ein Tagebuch als Roman, ist man versucht zu sagen, da erst im Kontinuum deutlich wird, wie kunstvoll die Einträge formuliert und gesetzt sind, wie die Themen wechseln, die Gefühlslagen, die Stile, der Ton. Indem wir das Buch lesen, reißt uns die Geschichte mit, gleichzeitig verstehen wir, warum uns das Blog so wichtig war und so herzzerreißend nahe ging.
Klarer als vorher tritt die Unterschiedlichkeit der Erzählstränge hervor. Die fortschreitende Krankheit wird in der Sprache der Medizin dokumentiert, einem Fachchinesisch, das der Laie nicht begreift und das daher umso gnadenloser wirkt. Kein Einspruch möglich. Dagegen die hemmungslos subjektiven Passagen über die Bücher, die der Kranke liest und sorgfältig auswählt, da keine Zeit bleibt für Unwesentliches. Er fällt harte Urteile, nimmt keine Rücksicht (der Tellkamp – Verriss!), aber er liebt und bewundert auch. Immer treffen seine Worte den Kern und wirken befreiend. Diese Einträge machen das Buch licht, als würde eine Jalousie hochschnellen. Herzerwärmend sind die Schilderungen von Freundschaft und erfahrener Hilfe, vom Schwimmen im See oder dem Fußballspiel. Wieder anders: der Witz, die Komik, die ruppige Selbstironie. „Arbeit und Struktur“ ist ein dunkles und ein helles, unglaublich abwechslungsreiches Buch.
Was den Leser bindet, ist vor allem das Gefühl unbedingter Aufrichtigkeit. Herrndorf steht ein für seine Art zu leben, für seine Überzeugungen (zur „Exit-Strategie“ beispielsweise). Mit nüchternem Stolz konstatiert er sein jahrelanges Leben am Rande des Existenzminimums, statt sich in einem Job fremdbestimmen zu lassen. Dazu gehört ein starkes Ich. Dessen Kehrseite heißt Egozentrik, wovor nur die Einsicht schützt, dass ein solches Leben nicht besonders sozial ist. Keine Anspruchshaltung also, kein Gejammer. Aber auch keine Scheu, sich in den Mittelpunkt zu stellen. Das Buch, intensiver noch als das Blog, erzählt seine Geschichte, ein bitteres und grausames Märchen, dessen Protagonist die goldene Gans erlangt, als es zu spät ist. Ein Märchen mit dem stetigen Risiko der Sentimentalität, der Herrndorf mit scharfem Blick und klappernden Zähnen, mit Wut und Spott die Stirn geboten hat.
Vor ein paar Wochen schlug ich die Zeitung auf und las, dass Henning Mankell den Verlauf seiner Krebserkrankung öffentlich machen will. Ach Henning, dachte ich, sei still. It has been done, and better.
Gisela Trahms
Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur. Rowohlt Berlin 2013. 448 Seiten. 19,95 Euro.