Milchmädchenrechnung
– Yoko Ogawa gilt, wirbt der Liebeskind Verlag, als eine der wichtigsten japanischen Autoren ihrer Generation. Mir sagte ihr Name nichts, ich war vom Titel, „Das Geheimnis der eulerschen Formel“, geködert worden, als ich die Liste der im Frühjahr erscheinenden Bücher durchging. Wie fahrlässig. Von Juan Guse
Die Erzählerin der Geschichte wird als Haushälterin bei einem ehemaligen Professor für Mathematik mit dem Spezialgebiet Zahlentheorie angestellt. Seit einem schweren Autounfall leidet der Professor an einer Form von anterograder Amnesie und besitzt lediglich eine Kurzzeitgedächtnisspanne von achtzig Minuten. Die Erzählerin gewinnt ihn gern. Eines Tages bringt sie ihren Sohn mit zur Arbeit. Der Professor erklärt den beiden „die Schönheit der Mathematik“.
Der neuronale Defekt ist vielleicht das einzig interessante an der Geschichte, denn Ogawa schafft es nicht, Figuren, die über eine generische Summierung von Stereotypen hinausgehen, zu schaffen, geschweige denn eine unterhaltsame Handlung zu bieten. Exemplarisch hierfür steht der Professor:
Er hat graues „zerzaustes struppiges Haar“ und trägt ausschließlich Anzüge. Der Professor (keine der Figuren trägt einen Namen) interessiert sich nur für Zahlen und wirkt auf die Erzählerin „fast immerzu in Gedanken“/„in Gedanken versunken“. Noch dazu verlässt er nie sein Haus, weil ihm Menschenaufläufe zu chaotisch sind, sondern vergräbt sich in seinem Arbeitszimmer, wo sich zahlreiche Bücher auf dem Boden stapeln. Das ist jetzt schon ziemlich unerträglich, aber es geht noch weiter. Selbstverständlich hat er nie gelernt, ein Gespräch zu führen, das nicht von Mathematik handelte, und braucht auch beim Kochen Hilfe. Er fragt Gäste nach ihren Schuhgrößen, ihren Telefonnummern oder ihrem Geburtstag, anstatt Hallo zu sagen, und erzählt dann begeistert von den Besonderheiten der genannten Zahlen. Wenn man mit der Google-Bildersuche nach „verrückter Professor“ sucht, erhält man in etwa eine Übersicht sämtlicher popkultureller Klischees von Professoren. Ogawa bedient beinahe alle in einer Figur. In der englischen Version von Wikipedia gibt es sogar einen Artikel über genau diese Art von Figur.
Solche Stellvertreterfiguren für ein Klischee, wie Emmet „Doc“ Brown, Prof. Calculus, Prof. Eich oder Prof. Frink, machen sich natürlich großartig in einem satirischen oder humoristischen Kontext. Aber Frau Ogawa meint es ernst. Mehr noch, sie emotionalisiert und pathetisiert die Mathematik, ja die Zahlentheorie. Absurderweise nicht durch die mathematisch ungebildete Erzählerin, sondern sie lässt auch den Professor, den angeblich begnadetsten Zahlentheoretiker, wie ein Waschweib (darf man das sagen?) davon schwärmen mit Aussagen wie „Wie ein Eisvogel, der jäh in den Fluss hinab taucht, wenn nur kurz eine Rückenflosse aufblitzt. So muss man auch die Zahlen erfassen“. Hier eine kleine Auswahl der schlimmsten Aussagen über Mathematik:
∞ „Aber es ist sehr schwierige diese Schönheit [die Schönheit des mathematischen Beweises] in Worte zu fassen, genauso, wie man nicht genau erklären kann, weshalb die Sterne einen in ihren Bann schlagen.“
∞ „Mathematik kann das Wesen dieser Wahrheiten zum Ausdruck bringen. Daran kann sie niemand und nichts hindern.“
∞ „Ihre Augen verrieten, dass auch sie einen Sinn für die Schönheit der Mathematik hatte.“
∞ „Mit dem leuchtenden Schweif einer Sternschnuppe zieht die eulersche Formel über das natürliche Firmament. Sie ist wie eine Gedichtzeile, eingeritzt in die Wand einer dunklen Höhle.“
∞ „Die Eulersche Formel ist ein Andenken, ein Schatz, der mir Halt und Trost spendet.“
∞ „Das Wurzelzeichen ist sehr solide. Es gewährt allen Zahlen Zuflucht und Schutz.“
∞ „Es ist die scheuste Zahl [i]überhaupt. Deshalb tritt sie einem auch nie unter die Augen. Sie befindet sich tief in unserem Herzen und in ihren kleinen Händen liegt die ganze Welt.“
Nicht eine Seite lang ist das Buch glaubwürdig. Vielmehr ist es ein Jonglieren mit vermeintlichen Kuriositäten. Auch wenn Ogawa entscheidende Probleme, wie den fermatschen Satz, die sieben Millennium Probleme, oder was die größte jemals in einem Beweis benutzt Zahl ist, anspricht, tut sie das immer nur mit dem Gestus der Kuriosität. Dadurch verpufft jedoch der literarische Wert, den Mathematik haben könnte, zu einem mediokeren Partytrick. Aber das ist leicht gesagt. Lyrik bedient sich ständig arithmetischer und geometrischer Formen. Ogawa ihrerseits hätte man mehr Mut im Umgang mit dem mathematischen Material gewünscht.
J.S. Gosze
Yoko Ogawa: Das Geheimnis der eulerschen Formel (Hakase no Aishita Sushiki, 2003). Übersetzt von Sabine Mangold. Berlin: Liebeskind Verlag 2012. 256 Seiten. 18,90 Euro.