Im österreichischen Mischwald der Dichtung
– Literatur aus Österreich ist mehr als Handke und Bernhard – das stand zwar schon vor der Lektüre fest, ist aber danach nicht mehr von der Hand zu weisen. Eindrücke von Senta Wagner.
Sie muss überfällig gewesen sein: An Literatur aus Österreich mangelt es ja nicht, aber offensichtlich an deren Geschichtsschreibung. Seit zwei Jahren gibt es gleich zwei brandaktuelle österreichische Literaturgeschichten, in der Sonderklasse Schwergewicht: „Eine kurze Geschichte der Literatur in Österreich“ (2011) von Wynfrid Kriegleder mit 600 Seiten und „Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650“ (2012) von Klaus Zeyringer und Helmut Gollner mit 840 Seiten im Großformat. Zum Vergleich, Heinz Schlaffers „Kurze Geschichte der deutschen Literatur“ (2002) umfasst 157 Seiten. Das Attribut kurz ist also wenig aussagekräftig, es gibt kurz lang und kurz kurz, eine Frage von Zeitraum und Methode.
An dieser Stelle wird der jüngste Band von 2012 vorgestellt. Darin hat der interessierte Leser die wunderbare Gelegenheit, bequem durch die Jahrhunderte, angefangen mit der Literatur des Barock, bis heute zu vagabundieren, ganz nach Geschmack kleinere und größere literarhistorische Sprünge zu nehmen sowie bei längeren Autorenporträts (Nestroy, Stifter, Jandl, Handke, Jelinek u. a.) zu verweilen. Es werden einzelne Werke besprochen und Lebensläufe nachgezeichnet. Ebenso werden österreichische Sozialgeschichte und überhaupt Befindlichkeiten jeder Art fundiert dargelegt, diesen Part der Arbeitsteilung erfüllt Zeyringer, die Porträts stammen von Gollner.
Was nach heterogenem Stückwerk klingt, erweist sich als eine geschmeidige Montage von einiger innerer Kohärenz. Grundsätzlich unterliegt ja so eine Großunternehmung einem starken Bestreben nach Ordnung und Einteilung und ist von ästhetischen Urteilen, was wem gefällt, keineswegs losgelöst: Es greifen Kanon- (oder auch Gegenkanon-) mechanismen der Zeitgenossen und der Nachwelt, freilich auch der Autoren. Auch sind diverse Konstrukte, etwa ein geografischer Rahmen, notwendig. Wo manches ausführlich abgehandelt, wird anderes, wie politische Erläuterungen (z. B. die kleindeutsche Lösung), nonchalant in Klammern gesetzt.
Prämisse
Beginnend haben die Autoren also nach einem kurzen Hin und Her ihr Thema fixiert: die deutschsprachige Literatur des Kulturraums Österreich. So! Die Autoren haben das Ganze im Blick, speziell Klaus Zeyringer, nicht die Spezialisierung, der „spezifische historische, gesellschaftliche und kulturelle Kontext“ heißt schlicht Österreich. Die Betonung liegt eindeutig auf dem Kontext.
Bereits vor mehr als 250 Jahren war wohl eine „verstärkte Reflexion über das Österreichische“, später die Betonung einer österreichischen Literatur zu bemerken. Hermann Bahr tat dies schon 1900. Interessanterweise, aus deutscher Sicht, folgt die „Literaturgeschichte“ ja der Prämisse, dass es eine österreichische Literatur gibt. Alles österreichische Schriftsteller: Schnitzler, Roth, Trakl, Hofmannsthal, die andernorts zu den bedeutendsten deutschen Schriftstellern gezählt werden. Auch Canetti und Celan haben sich als solche betrachtet. Rilke, Kafka und Ödön von Horváth werden als „heikle Fälle“ bezeichnet. Viele andere Autoren dürften dem heutigen Lesepublikum vollkommen unbekannt sein. Inzwischen hat sich die Bezeichnung deutschsprachig für die Literatur durchgesetzt, die in deutscher Sprache geschrieben wird, also auch die in Österreich. Dennoch ist sie heute definitiv in ihrer Eigenständigkeit zu sehen. Zeyringer und Gollner grenzen sich damit von einer deutschen Perspektive auf die heimische Literatur ab.
Was diese allerdings nicht beachtet, wird an manchen Stellen dankenswerterweise ausgiebig mit Textbeispielen nachgeholt: zum Beispiel die Vorstellung des Avantgardekünstlers Heimrad Bäcker (1925–2003), Stifter des gleichnamigen Literaturpreises, und seines Werkkomplexes „nachschrift“ (1986) und „nachschrift 2“ (1997). Darin werden anhand gesammelter Dokumente die Schrecken von Holocaust und NS-Zeit in den „Schrecken der Sprache“ gebracht. Bäcker hat als Verleger nicht nur sein Werk, sondern auch ein weites Feld experimenteller Literatur (Elfriede Czurda, Mayröcker, Jandl, Elfriede Gerstl) veröffentlicht.
Vergleiche der Entwicklungen mit Deutschland bleiben nicht aus und sind erhellend etwa in Zusammenhang mit der für Österreich und seine Dichtung prägenden Gegenreformation, dem Austrofaschismus, der NS-Zeit oder auch dem kulturellen Klima der 1970er-Jahre: einer Zeit, wo die heimische Literatur zunehmend ihre „restaurative Funktion“ verliert. Bis dahin aber, kaum zu glauben, ist der frühere Nazi-Schriftsteller Karl Heinrich Waggerl „Lieblingsautor der Leserschaft“ und obendrein Auflagenmillionär.
Erzählen, erzählen
Der narrative Ansatz der Schreiber Zeyringer und Gollner glänzt mit Ausflügen ins Essayistische und Anekdotenhafte. Er macht aus dem von Daniel Kehlmann prononcierten „zukünftigen Standardwerk“ tatsächlich ein durchlesbares, mindestens ein durchblätterbares Buch, das die Qualitäten eines Nachschlagewerks aufweist. Wachsam sind die Autoren hinsichtlich Verständlichkeit und Wiederholungen, ganz bleiben diese aber nicht aus. Lebendige Kolumnentitel sind hilfreiche Lotsen und werden vermisst. Organisatorische Gefährdungen wie eine unvollständige Werkauswahl werden im Vorwort mit dem Hinweis auf unser Google-Zeitalter virtuell beseitigt. Surfen erwünscht.
Notorisch nennen die Autoren den Gegenstand ihrer Untersuchung Sprachkunst, womit sie deutlich ihre Wertschätzung und ihre Freude an diesem ausdrücken. Nicht unerheblich für eine gewinnbringende Lektüre. Doch nicht nur die Sprachkunst in seiner mannigfachen Gattungsvielfalt ist Inhalt des Buches, das vom Wesen her schon raumgreifend und überlappend ist. Sondern Literatur bedeutet neben schreiben und lesen können (Schulwesen, Bildung) auch Betrieb und Gemeinschaften: Autoren, Verlage, Institutionen, Lesepublikum, Buchmarkt und -handel, Zeitungen und Zeitschriften, Theater, Salon und Kaffeehaus, Literaturpreise und mehr noch. Die erhebliche Faktenlage wird von vielen Zahlen gestützt, oftmals Jahreszahlen, aber auch Auflistungen und (prozentuale) Mengen (z. B. den Buchhandel betreffend). Österreich ist aber auch die Popularität von Lachtheater, Hanswurst, Kasperl und später der Wiener Komödie, worüber es sich in dem Zeitraum von 1700 bis 1850 schmökern lässt. Hierin spiegelt sich besonders die Bedeutung des Dialekts gegenüber der deutschen Normsprache.
Zehn Seiten Inhalt
Die Autoren machen es anders: Mit den klassischen -ismen deutscher Geistesgeschichte (z. B. Romantik, Naturalismus) ließe sich die „Eigenart“ österreichischer Dichtung nämlich gar nicht erfassen. So wählen sie sinnstiftende Epochenkapitel, die mehrere Jahre, Jahrzehnte von bis umfassen (1970/73–1986/88/89), sich auch überschneiden können und beschlagworten diese, wo nötig, ausführlichst mit Untertiteln. Anschließend dröseln sie sie in bis zu über dreißig nummerierte Unterkapitel auf. Freilich können die einzelnen Epochen keiner proportional einheitlichen Betrachtung unterliegen, nicht in jeder gab es gleichermaßen „Gold für Österreich“. Die Untertitel schließlich sind in vielen Fällen mit dem oder den zu besprechenden Autoren, männlich wie weiblich, oder sonstigen Kürzeln versehen.
29 Expressionismus, letzte Lieferung; das ist irgendwie verständlich. Ein schwierigerer Fall: 11 Provinz, Frost, Wände. Die Werkauswahl wird als bekannt vorausgesetzt. Provinz ist eine Verortung, Thomas Bernhards Roman „Frost“ dort angesiedelt. Wände spielt an auf die Romane von Marlen Haushofer („Die Wand“) und Ingeborg Bachmann („Malina“). Das sind Titelmischungen, die Spaß machen. Wiederholt werden einige Kapitel mit einer Zusammenfassung abgrundet: Literarisches Feld, ästhetische Wertungen.
So wächst ein Inhaltsverzeichnis über zehn Seiten heran, das für sich genommen schon generös ein österreichisches Panorama der Literatur abbildet. Das Buch endet nach Einlassungen zu Arno Geiger, Norbert Gstrein und Daniel Kehlmann mit Anna Kims „Anatomie einer Nacht“ (2012) und hält einen Epilog bereit. Für 2013 gäbe es bereits erste Nachträge. Freilich mag jeder Leser auch etwas vermissen – einen Autor, ein bestimmtes Werk, irgendeine Information. Das Fehlen der Anton-Wildgans-Literaturpreisträgerin Olga Flor wurde bereits von der Literaturkritikerin Daniela Strigl reklamiert.
Zu bemerken wären die derzeit rührigen Wiederauflagen genannter Autoren wie Hugo Bettauer, Ida Pfeiffer und Karl Emil Franzos oder die Herausgabe des Gesamtwerks von Elfriede Gerstl. Sie alle sind eine Einladung zur Lektüre österreichischer Literatur.
Senta Wagner
Klaus Zeyringer/Helmut Gollner: Eine Literaturgeschichte: Österreich seit 1650. Innsbruck: Studienverlag 2012. 840 Seiten.