Christine Kappe
Barlinge 1. Vergebliches Gespräch mit einer alten Frau im Hausflur, friere durch, weil ich vorher geschwitzt habe, warum wir keinen Schlüssel kriegen, warum es den Menschen nur ums Geld geht. Ihr rechtes Auge ist kleiner und tränt, ob sie damit was sehen kann? Sie will meine Hände fühlen, wie kalt die sind, doch ich hab Handschuh an. Nachher erklärt mir mein Kollege, die Hoftür sei dort immer offen und ich weiß nicht, ob dies oder der wärmende Blick eines Mannes, den ich erfunden habe, mich über den Tag gerettet hat.
4. Dezember 2013 09:41
Christine Kappe
Jetzt schon unvorstellbar: die schattigen Ecken der Umkleidekabine im Eisenbahner-Freibad, ein kühler Schauer, den ich in Kauf nehme, nicht aber den Schrecken, den mir das dicke Mädchen einjagt, das dort hockt und heult, als würde die Welt untergehen; ich denke sofort: sie übertreibt, und gleichzeitig spüre ich, sie hat recht, sie hat verdammt nochmal recht
„Hast du dich mit deiner Freundin gestritten?“
„Das ist nicht meine Freundin, das ist meine Klassenkameradin!“
Bienen hängen am Lavendel, der sie angeblich vertreibt
Ich schreibe in einen politisch unkorrekten Block, die Frauen von den Fahrrädern versuchen, die Frauen von den Handtüchern zu vertreiben, der Kampf um die letzten Trinkvorräte, die Männer von der Bahn schleppen riesige Wasserkanister aus dem Fahrstuhl bis an die Treppe, die vom Bahnsteig nach unten führt, und lassen sie dann auslaufen
Traust du dich vom Dreier?
Alles bringt uns um, Wespen & Schwebfliegen, Strahlung & Feinstaub, gehärtete Fette & lange Haltbarkeit
Die Platanen werfen uns ihre Rinde vor die Füße, … und jetzt auch noch die Blätter
8. Oktober 2013 15:30
Christine Kappe
für Dirk Baumeister
und schon haben wir den Traum der letzten Nacht vergossen
Die Rolle, die ich spielen sollte, war schon von einer anderen Frau besetzt; vielleicht weil ich einmal krank war und sie ein Foto gemacht hatten (blaues Kleid, braunes Haar? Der Schweizer weiß nie, wie die Frauen aussehen.) Das Viertel, in dem es spielte: nicht ganz geheuer. Aber das war es nicht. Sie trommelten zu viel und sprachen zu schnell. Und nachher waren wir zu anstrengend!
Also: die Frau wurde schon von einer anderen gespielt, und ich sollte plötzlich den Pater spielen, weil ich Latein kann. Las dann allerdings auch die Aufschrift der Getränkeautomaten mit, die auf der Bühne standen. Auf der Bühne: totaler Lärm: Baustellen, Hubschrauber, Umhergerenne, ca. 3 Männer in weißen Kitteln legten mich in ein Bett, fragten nach meinem CG-Wert und wollten mir eine Spritze verpassen.
CW* hätte ich ja noch verstanden
(*cw-Wert = Luftwiderstandsbeiwert)
21. September 2013 08:50
Christine Kappe
Blau, mit dem matten Abglanz eines Sommers, fußen rautenförmige Tische auf staubiger Straße. Über ihrem Wachstuchglanz fangen sich die Strahlen zweier Sonnen in gelbsprudelnden, schaumköpfigen Gläsern, deren Hüften von gebräunten, ring- und zigarettentragenden Händen umfasst sind. Zu beiden Seiten beinhalten schwarze Quadrate und Dreiecke die weiße Idee der Häuser – heute mit verschiedenen Ebenen aus getrockneten Pinselstrichen und dahingewischten Insektenleibern auf schattigem Risswerk. In Fensterscheiben schlendern Negativaufnahmen weißer, hochhackiger Schuhe neben der Gotik römischer Sandalen; dazwischen ab und an ein leerer Mantel. In der Höhe winken Dachrinnen zipflig als windlose Wetterfahnen; manche stoßen auch grellen Rauch aus, der, mit sich selbst im Widerstreit, ob er sich nun zu Schwarz oder Blau verdichten soll, zerrissen durch die warme Luftgasse flitzt. Da kommt ein einbeiniger Trommler die Straße herab. Er bewegt sich mit seinen dünnen, hölzernen Armen vorwärts, die wie Windmühlenflügel mit den Stäben in der Luft rühren. Mit stotternden Notenflocken verwirbelt er sämtliche anderen Geräusche bis aufs letzte und bietet jedem seinen fordernden Bauch mit verschiedengroßen Schlitzen für Geldmünzen. Erst als er genug hat, lässt er durch sein Verschwinden die gewohnten Klänge wiederkehren, die mit ihrem blau-gelben Eintagstanz unaufhörlich-haltsam unsere Ohren verkleben.

28. August 2013 19:21
Christine Kappe
Max Eydth. Mit manchem Brief falle ich selbst ins Haus. Ich sehe durch die Scheibe in der Tür, wie er sanft auf den Teppich segelt und möchte hinterher, über den Teppich auf die Terakotta-Fliesen und die weiße, hübsche Tür öffnen, mit der Gardine davor… hier stehe ich in einem Flur mit dunklem Parkett, in der Garderobe hängen Mäntel, solide Regenjacken, Hundeleinen; in den Flur fällt das Licht von mindestens drei nicht ganz kleinen Räumen, und dieses Licht flackert, durch die Laubschatten von mindestens drei nicht ganz kleinen Bäumen, die in einem großen Garten stehen; sicherlich befindet sich irgendwo ein Musikinstrument. Die Fensterscheiben sind fleckig, weil die Putzfrau Urlaub hat. – Es gibt aber auch ganz andere Häuser hier, Häuser, deren Fenster vergittert sind, in die ich aber auch ohne Gitter nicht hineinsehen könnte, weil sie dunkel sind und sich nichts in der Nähe der Fenster befindet; von den Briefkästen ist meist der Name abgerissen und vor dem Gartentor steht ein unbenutzter Zweitwagen.
15. August 2013 19:06
Christine Kappe
Bei einem Spaziergang durch die Stadt entdecke ich in einer schattigen Seitenstraße einen kleinen Buchladen, der mir nie zuvor aufgefallen ist. Ich gehe hinein und frage mich, warum es hier kein Licht gibt; aber dann sehe ich, dass es nur kaputt ist, denn ab und zu leuchtet schwach eine Neonröhre auf. Als ich mich an das Halbdunkel gewöhnt habe, erkenne ich, dass es in diesem Laden nur Taschenbücher gibt. Eins davon habe ich geschrieben. Wie der Klappentext mir verrät, handelt es von meiner Kindheit. Es trägt den Titel „Die Teebaumgesellschaft“. Ich muss meine Augen sehr anstrengen, um etwas lesen zu können. Der Text ist aber recht überschaubar. Die Mutter in der Geschichte sagt immer bloß ‚brrr‘, der Vater ‚frrr‘. Kein Wunder, erkenne ich doch auf einer Illustration meine Mutter, wie sie das Hemd von Vater bügelt – nackt, da friert sie natürlich. Und Vater friert ja, weil er das Hemd nicht anhat. Ob ich das Buch kaufen soll? Aber dann lasse ich es sein, grüße den Ladeninhaber, der seit meiner Ankunft in der Nische seines Verkaufstresens telefoniert und gehe wieder auf die Straße.
2. Juli 2013 11:44
Christine Kappe
Ich kann mit meinem Vater prima über Probleme reden, aber zwei Tage später kommt ein Brief, in dem er alles erklärt und ins Weltgeschehen einordnet. Und dann kann ich ihm nicht mehr glauben. Meist möchte ich den Brief gar nicht lesen. Schade eigentlich. Aber ich sehe, dass mein Vater es gut meint. Da ich nicht will, dass er denkt, ich hätte den Brief nicht gelesen, überfliege ich ihn kurz, um ihm wenigstens antworten zu können, wenn er mich dazu fragt und um ihm ein gutes Gefühl zu geben. Ich finde, das ist eine viel ehrenwertere Motivation, als die, den Brief verstehen zu wollen. Aber mein Vater sieht das nicht so. Mein Vater wird zutiefst enttäuscht sein, wenn ich nicht versuche, seinen Brief zu verstehen… d.h. wenn ich ihn als Mensch sehe, wird er mich als Unmensch sehen, und wenn ich ihn als Unmensch sehe, könnte ich ihn nicht verstehen… und wenn ich ihn nicht verstehe, wird er wütend werden und mir einen weiteren Brief schreiben.
11. Juni 2013 11:33
Christine Kappe
Die verschiedenen Schwarztöne, die Kinder wollen immer im Dunkeln spielen, von meinem Ich ist nur Schwarz übriggeblieben, das Schwarz zwischen den Lichterketten, das Schwarz des Kaffees, das Schwarz der verlassenen Wohnungen, des Spaniers im Dachgeschoss; er arbeitet schon wieder, läuft im weißen Arztkittel über den Flur, spricht mit jemanden, den ich nicht sehe und wünscht verlegen ein ‚frohes neues Jahr‘; die schwarzen Fäden in seiner Haut; durch Wunden in Menschen dringen, erst abgestoßen sein, dann nah.
Der Wind zupft sanft an den kahlen Ästen, das Bodentuch über der Balkonbrüstung bewegt sich nicht, ist gefroren. Die Beeren fallen jetzt mehr auf als im Sommer. Sie hängen an knochigen Zweigen: rote an den Bäumen, orange und weiße an den Büschen. Die Weißen sind am wenigsten schön, sie leuchten aber, spenden Hoffnung, vermutlich weil man sie aus dem Sommer zu kennen glaubt. Das Weiß der Birken, der Häuserwände, der Wolken hat nicht so viel Licht wie sie. Wenn ich Malerin wär! Keine Worte machen, um das Herz besser hören zu können. Durchscheinen der Grundkonstruktion Mensch.
6. April 2013 12:56
Christine Kappe
Einer der ersten sonnigen Tage in diesem Jahr. Wir wollen ein Picknick machen, doch ein Junge bedroht uns mit einem überdimensionalen Maschinengewehr; es ist bunt und kann sprechen. Vor einem Jahr noch hätte ich nichts gesagt.
Kurz danach rät mir eine Frau in der Bahn, die Stirn nicht in Falten zu ziehen. Ich würde ja älter aussehen als ich sei. Sie hat eine Kerbe in der Lippe, die beim Sprechen zu bluten anfängt. Ich stelle mir vor, wie weh das tut; sie aber lächelt auch noch.
19. März 2013 10:51
Christine Kappe
die Zeit kriecht mir kalt in die Ärmel
eine Art Tod
irgendein noch zu bestehendes Abenteuer
eine Frau zerteilt Pfützen mit dem Kinderwagen
das Kind – von der Sonne geblendet – schreit schrill
ich zweifele an seiner Echtheit
Sonne erhellt nicht immer, immer aber gibt es zwei Bilder
eins ist wahr, das andere hell
10. März 2013 11:10