Christine Kappe

Zeit. Die Zeit im Herbst. Die kurze. Sonst eigentlich lang.

…  weiß schon gar nicht mehr, was ich damit sagen wollte, aber die Schnelligkeit und die Verallgemeinerungstendenz des Internet passen einfach nicht dazu.
Und sicherlich ist es idiotisch, wenn Eskimos jetzt anfangen, vegan zu essen, bestimmt auch total ungesund für die. Aber die Idee, die Idee!

30. November 2015 13:48










Christine Kappe

Weiße-Kreuz-Platz

Wir können ja nicht einfach hergehen und schlafen
Wir können hergehen und den nicht arm, nicht arbeitslos, nicht schlecht aussehenden Mann, der um 11 schon das 3. Weizenbier trinkt, fragen
ob er mal etwas spendet oder ob er Drogen hat oder ob er weiß, wos langgeht
(Puffbesitzer – der wird die Krise überstehn!)
Früher haben mein marokkanischer Freund und ich den Krieg immer mit einem tragbaren Fernseher verfolgt
aber nur bis zur Schlägerstraße

26. Oktober 2015 07:23










Christine Kappe

Die Freiheitsstatue steht kurz vor Reims

die Freiheitsstatue steht kurz vor Reims und am Rand von Paris wir Frauen
tratschen & haben einen Überblick dick sind wir
Familienoberhäupter aus allen Nationen
sicherlich
ist die Stadt einer unserer Exzesse wie die Frau mit den blauen Wimpern
ist sie behindert oder total breit?
am Ende des Tages kommt ein alter Mann
legt ihr ein Tuch um die Schultern spricht mit ihr füttert die Tauben die Tauben
wirbeln das Licht auf ohne das es diese Stadt nicht gäbe wir
haben alle verkrüppelte Füße und zerrupfte Körper
der alte Mann führt die Frau über die Straße muss sie stützen
sehe den beiden noch lange nach
& Blütenstaub
ob sich auch jemand um mich kümmert wenn ich verrückt bin?
andererseits will ich erst gar nicht verrückt werden
lieber weinen

(für Sylvia Geist)

12. Juli 2015 21:27










Christine Kappe

Moskau – Berlin

Das Wasser auf der Tragfläche trocknet in Sekunden
„Hier scheint immer die Sonne“
tröstest du mich
wir haben die vorderen Sitze runtergeklappt und die Beine daraufgelegt
fragt sich, in welcher Sprache wir lachen
„Draußen dürften es jetzt -50 ° sein“
fühl mich so hilflos, auszudrücken
dass der Himmel hier doch
und sowieso anders ist
(njeba oder njebeßa?)
nicht Angst vorm Fliegen, sondern Angst vorm Himmel
könnte aber auch bloß ein Übersetzungsproblem sein

4. Mai 2015 09:31










Christine Kappe

mehr als alles

Und im Augenwinkel sehe ich
wie sie nicht nur alles zerstören
sondern mehr als alles
weil sie wollen, dass gar nichts mehr ist
lieber gar keine als eine ungerechte Welt
was sie eigentlich wollen

sterben
ohne darüber nachgedacht zu haben
was das ist
Kurz der Gedanke: Wir müssen was tun
weil ja diese Dinge auch nicht in Sprache
nicht mehr sein ist etwas anderes als nicht sein
und noch nicht gewesen sein
aber ob es, was es in Sprache gibt, auch gibt
und ob die Schönheit siegt, nur weil wir es wollen

aber ob das ein Beweis ist

was aber ist schön
auch Zerstörung?
Gewalt?

nicht mehr sein ist etwas anderes als nie gewesen sein
ob beides ewig ist
ob die Ewigkeit
unterbrochen werden kann
ob es einen Zusammenhang zwischen nicht mehr sein und noch nicht sein
ob das sein kann
ein Anfang ohne Ende, Ende ohne Anfang
und ob, was einmal war, nur in der Erinnerung, in der Sprache
nicht auch in unseren Körpern, in der DNA, aufbewahrt ist

wenn sie auf Körper einschlagen
wenn sie auf das, was Leben wertvoll macht, einschlagen
wenn sie auf den Glauben an etwas Schönes, auf die Hoffnung
auf etwas Schönes einschlagen

lieber soll gar nichts mehr sein / sie wollen, dass nichts mehr ist
sie wollen nicht sein
es ist ihnen egal, ob sie sind
ob ihr systematisches Vorgehen eine Systematik beweist
ob hinter ihnen ein Gott, ein grausamer Gott steht

ob hinter der Systematik höhere Mächte stehen
(wenn ja, wieviele, und wenn eine warum nicht zwei, und warum, und wenn alles nur ein Spiel ist)
oder nur Drogen
Rausch

ob sie nur das sind, was sowieso passieren wird

wenn wir es nur im Augenwinkel sehen, im Fernsehen, im Internet
ob wir das dann sind, /ob wir das dann selbst sind

(oder einer von uns, oder zwei
wenn wir nichts sagen
wenn wir nichts tun
wegen der Ungleichheit
wegen der Unterschiedlichkeit
die ja das Leben ist
nur im Tod sind wir gleich, nur wann und warum

und weil „sehen“ die Vergangenheit von „wissen“ ist
und wir eigentlich rückwärts gehen
und weil die Zukunft in der Vergangenheit liegt
zerstören sie alles
was mehr als alles ist

14. März 2015 10:32










Christine Kappe

das Leben zählen

Überall Digitalanzeigen, die das Leben zählen
damit wir uns nicht freuen
wir blauen blutsaugenden Spinnen
mit Händen statt Füßen an den Beinen
die Vorstellung, dass das Leben sich verzweigt, aufästelt, immer mehr wird, komplexer
aber ob blau oder grün
im Innern sind alle Spinnen rot
kurze Generationsfolge einerseits
Vampirismus andererseits
ob eine Spinne nicht die nächste ist
und ob sie überhaupt sterben, wenn in ihnen bloß Blut flieht
an den Beinen wachsen Hände
und an den Fingern Hände mit Fingern, an denen Hände wachsen…
gibt es eine andere Möglichkeit für diese Tiere
etwas anderes als das Leben zu wählen
ein Tier mit 8 Beinen, also 8 Händen
muss, um zu überleben, das Blut von 8 Tiere trinken
danach wachsen ihm 40 Hände…
die nächste Zahl ist 200
der Faktor heißt 5
das Geheimnis des Lebens ist ein  Rechenproblem
„Das Leben ist bloß eine Matheaufgabe“
Irgendwer vermutete, dass sie eine Seele haben
ja, eine Seele für 2 Hände, aber für 8?
und können sie nicht Pflanzen essen?
Und wenn die Erde, auf der sie leben, eine Insel ist
die von unten verfault und von oben immer neugebaut werden muss
werden sie nicht müde?
Und wenn die Erde, auf der sie leben, auf die Sonne, von der sie leben, zurast
werden sie sich nicht müde?
ist es das Leben?
sind das wir?

12. März 2015 09:17










Christine Kappe

kleine russische Sprachleere

In Russland gibt es mehr Felle als bei uns
Das Leben ist dort kälter, rauer und doppelbödiger
Auf den einzelnen Böden geht es dann aber wieder sehr direkt zu
Den Satz „X sastreliwajet B. Njemzowa pistoletom pri stenje“
(„X erschießt B. Nemzow mit einer Pistole bei der Mauer“)
können wir nicht ohne weiteres übersetzen
: uns fehlt der Instrumental (pistoletom) und der Präpositiv (pri stenje)
So gelangen wir unweigerlich in den Breich der Nachdichtung
und für X außerdem in den Bereich der höheren Mathematik

Was also kann die Lösung sein

Die Frage ist, ob a) die Lösung nicht im Satz enthalten ist, wie in einem heiligen Mantra
b) X überhaupt Russe ist
oder c) die Lösung öffentlich gemacht werden darf
ohne dass solche Sätze über einen selbst gesagt werden
Und die Anteilnahme ist dann auch noch nicht bewältigt!

(Übrigens: Der Akkusativ kommt im Russischen, anders als im Deutschen, erst nach dem Genitiv und dem Dativ, er ist peripherer, was allerdings keinen Rückschluss auf die Semantik zulässt, sondern lediglich ein anderes Ordnungssystem zur Kombination der Elementarteilchen darstellt)

8. März 2015 10:15










Christine Kappe

erste Liebe

Die erste Liebe, die erste große Liebe, die Liebe, die schon mit 8 Jahren kompliziert, sich auffächert in verschiedene Unmöglichkeiten, in den Worten der Mütter am Telefon, die Worte, die ganzen Worte, die man macht, um sie herum und gegen sie, und fürdafür, Zweifel, die halben, zumindest in der Schule spielt er nicht mit ihr, weil die anderen Jungs ihn ausgelacht haben, tauscht doch nicht ein Mädchen gegen seine Clique, dann die Mutter am Telefon, Tina will nicht mehr mit ihm spielen, sei traurig, wütend, mein Sohn mit dem Rücken zur Heizung und sagt gar nichts, später fällt mir ein, dass es bei seinem Bruder genau umgekehrt war, er mochte Maria, wollte immer mit ihr spielen, egal, was die anderen sagen, hielt ihr Händchen, doch Marias Mutter wollte das nicht, war ihr zu viel, sie sollten nicht mehr spielen, und ich frage mich, wie wars bei mir früher… doppelte Sicherheit: ich suchte mir gleich einen Jungen, der nicht Händchen hielt. Außerdem hätte ich es nie meiner Mutter erzählt… , die ja nur ihre Kinder, die die großen Gefühle und überhaupt die Gefühl, die wissen, was gut ist, die ganzen Mütter, die ersten, die großen, die Mütter

24. Februar 2015 18:39










Christine Kappe

früher, heute, morgen

Früher haben wir auf unseren Treffen gern Fotos angeschaut, Kannst du dich noch an den erinnern, oder Was macht jetzt die? Wie hieß sie nochmal? Und vor allem: Wie wir ausgesehen haben, Und Wo war das nur?
Jetzt machen wir ständig Fotos oder überhaupt nicht mehr, das kommt aufs selbe raus, und dann schauen wir sie nicht an oder können sie nicht sortieren, vielleicht liegt das daran, dass sich unsere Wege auseinanderentwickeln, nicht an der fortschreitenden Technik, alt sind wir jedenfalls nicht, Mitte des Lebens, Doch Alles Wesentliche muss passiert sein, sagst du, sagt dein Vater, Vielleicht denkst du etwas konservativ, oder einfach nur realistisch, ich zumindest will Gegenbeispiele nennen, finde aber keine auf die Schnelle im Regen auf dem Weg zur Bahn.
Wär gern länger geblieben, doch eins ist klar: Unsere Wohnzimmer werden nie die Größe der Wohnzimmer unserer Eltern erreichen, weil wir nicht lange genug darin sitzen – ganz zu schweigen von der Größe der Wohnzimmer unserer Großeltern.

31. Dezember 2014 19:08










Christine Kappe

Kabakovs Fliege

Und da sehe ich eines Morgens, lange vor Sonnenaufgang, „Kabakovs Fliege“: in Gestalt einer lebensmüden Wespe sitzt sie an der Briefkastenanlage in der Wilhelmstraße 6 und wärmt sich im Licht der Außenbeleuchtung. Es ist ein milder Herbst, aber sie wird nicht mehr lange zu leben haben. Sie bewegt sich kein Stückchen, während ich die Zeitung einwerfe, was für dieses kleine Tier ein plötzlicher Sturm, ein kleines Erdbeben bedeuten muss.
Die Fliege war – bevor Kabakov über sie schrieb – ein kulturell wenig aufgelades Motiv, mies gezeichnet, hing sie, vergilbt, herausgerissen aus einem Kinderbuch, umgeben von gnoseologischer Leere, auf seiner Veranda.
Meine Wespe ganz ähnlich: farblich matt, leblos, angestrahlt von einem überdimensionalen Schweinwerfer, als würde sie auf einer Bühne stehen, um sie herum schwarzes, rein funktionales Metall, rostfrei, welches sich nur wenig aus der lichtlosen Nacht herauslöst, Nacht, oder endloses, dunkles Häusermeer. Die Erscheinung weist in zwei Dimensionen: Einmal begegnet mir hier ein Fitzelchen von der riesigen Natur. Andererseits zeigt ihr resthaftes Dasein, wie der Mensch die Natur nicht achtet, sie quasi neben ihm herexistiert.
Das Ignorieren dieser Parallelwelt ist gleichzeitig die Bedingung für unsere Verwunderung, unser Erschrecken: Ist es nicht übertrieben, diesem winzigen Wesen so eine Aufmerksamkeit zu geben? Und wir ahnen: Nein, ganz im Gegenteil, hier IST etwas, während wir nur sein wollen.

22. November 2014 00:41










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