Hendrik Rost

Trampeltier

Jetzt kurz vor der US-Wahl schrieb ich meiner Gastmutter von 1987/88, dass ich mich noch gut erinnere an mein Jahr in Washington, D.C., wo ich im Schatten des Kapitols in einem alten, halb fertigen Haus zweier Regierungsangestellter lebte. Nachts flackerten die Suchscheinwerfer der Helikopter durch die Gassen auf der Suche nach Einbrechern. Bush Senior löste Reagan ab. Ich spielte abends auf dem Asphalthof einer Schule in der Nachbarschaft Basketball mit denen, die gerade da waren, bis meine Gasteltern es mir verboten, wegen der offensichtlichen Gefahr, als einziger Weißer da rumzulungern. Also lag ich auf dem Bett in meinem Zimmer und lauschte die Grillen, die seit 17 Jahren zum ersten Mal wieder aus der Erde gestiegen waren. Pausenlos zirpten sie lauthals in den Wipfeln der Alleebäume, im Fensterrahmen rotierte ein Ventilator. Ich schrieb ihr, wie es ihr damit ginge, dass ein Hallodri (a rogue) Präsident werden könne. Sie antwortete postwendend, berichtete, schon vorab gewählt zu haben, und hoffte, ebenfalls einmal in einem progressiven Land (wie Deutschland) leben zu können, in dem eine Frau die Regierung führe. Sie lebt allein mit ihrer Tochter im jetzt fertigen Haus. Zwei Ehen mit Alkoholikern sind Geschichte. Mein Gastvater seinerzeit war glühender Anhänger der Todestrafe, sein Sohn, mit dem ich das Zimmer geteilt habe, war tiefgehend verunsichert, antwortete auf Fragen immer mit Minuten Verzögerung und hatte mir zu Ehren vor meiner Ankunft den Münsteraner Dom aus Streichhölzern in beachtlicher Größe nachgebaut. Sein bester und einziger Freund war Manni, ein Vietnamveteran, der in einer Vorort-Mall einen Laden für Militärmodelle betrieb. Meine Gastschwester hatte sich in einem kunstvoll vermüllten Zimmer verschanzt; in der Mitte ein Plattenspieler, auf dem immer wieder Fugazi rotierte. Im Stockwerk darunter schrien sich meine Gasteltern an, der Fernseher lief, eine amerikanische Debatte.

4. November 2016 12:55










Hendrik Rost

Nuss

Vor dreißig Jahren habe ich zum ersten Mal ein Gedicht geschrieben; im Bus auf dem Weg zur Schule. Aufgehoben habe ich es nicht, aber es war wohl wie alles, was ich bis vor zehn Jahren geschrieben habe, im Wesentlichen Mumpitz. Mit nichts habe ich mich so ausgiebig und lange beschäftigt wie mit fremden und eigenen Gedichten. Und trotzdem könnte ich kaum etwas dazu darlegen. Außer: Relative Erfolglosigkeit und die Scham über den ständigen Verrat der allgemeinen Geheimnisse ergeben einen seltsamen kreativen Schub. In einer Welt, in der es entweder Wackelpeter und Konzinnität gibt oder kluge Stacheldrahtgeflechte suche ich nach Gedichten, die aus der Zeit in die Zeit gefallen sind.
„Es ist das Gegenwort, es ist das Wort, das den Draht zerreißt …“ Ihr wisst schon. Dreißig Jahre eine Kladde auf den Knien, irgendetwas kritzelnd – so gesehen ist es eine lange Zeit. Andererseits reicht sie für die Vorbereitung auf das Unheimliche kaum aus. Aber da will ich hin: jwd.

Für Sylvia Geist

2. November 2016 09:01










Hendrik Rost

Bob Dylan – aus: Blonde On Blonde

Then time will tell who has fell
And who’s been left behind
When you go your way and I go mine.

The judge, he holds a grudge
He’s gonna call on you
But he’s badly built
And he walks on stilts
Watch out he don’t fall on you.

13. Oktober 2016 12:41










Hendrik Rost

„Gorillas in unserer Mitte“

Die Elbe schaukelt langsam den Tag
in den Schlaf oder sie wägt eine Idee
ab, die ihr eben auf der Welle lag
und in den Sand fiel: endlos viele
Universen aus Körnern, ein Gries
aus Plastik, allmählich zerschliffen.
Im Abenddämmern der Containerriese,
sprengt die Vorstellung von Schiffen;
wie ein Opernhaus an der Skelettküste.
Noch nicht im Bild sind tanzende Affen,
als erwarteten die Sinne einen Test:
Aufmerksamkeit ist nach oben offen.
Da, Klaus’ Kopf, maskiert als Kiesel.
Einst wogten hier Seegraswiesen.

21. September 2016 13:34










Hendrik Rost

Mandelstam

Ich wende den Stamm des Baums, der letztes
Jahr im Garten stürzte. Unten fällt eine Schicht
Asseln von dem Holz, das sich schon zersetzt.
Alles Winzige flieht schnell aus dem Licht,
langsame Würmer, flinkere Tausendfüßler
und Sammetmilben, die wie eine Markierung
durch das Gemenge sputen. Der Künstler
wollte Älteres anders äußern. Verwandlung
beginnt mit dem Fallen und das Entstehen
neuer schwarzer Erde ist Spuk von Fressen
und Ausscheiden und wieder Verzehren …
Und dazwischen wie von der Leine gelassen
die roten Milben. Der Baum ist für die Viecher.
Sturz wird zu Boden, Blätter werden Bücher.

Für Mirko

9. September 2016 12:53










Hendrik Rost

Realismus und Herbst

Sprache fällt immer weiter aufs Land.
Fällt wie Eichkatzen aus den Bäumen.
Im Geäst leuchten alternde Pflaumen,
abends ruht alles, auch der Verstand.

Die Kinder waren Phrasen erlegen
in der Stadt beim Museum der Ideologien.
Müde Rückkehr, gesammelte Kastanien.
Fast hätte ich mich Fakten ergeben.

6. September 2016 14:18










Hendrik Rost

Der Körper zerfällt in Sprache

Aus dem Nichts heraus etwas Vergebliches zu schaffen, das ist ein sonniger Nachmittag am See. Nach dem Schwimmen weit hinaus zu den Barschen und den Florfliegen, die auf der Wasseroberfläche gelandet sind, schlenze ich mit vor Vitalität kribbelnden Extremitäten über den Rasen am Ufer und mache an einer Kinderreckstange Klimmzüge. Da ich mich stark fühle, mache ich gleich ganz viele. In der Netzschaukel daneben stehen zwei ungefähr 8-jährige Jungs und sehen zu. „Der kann das gut“, sagt der eine zum anderen und fügt hinzu: „dabei hat der gar keine Muskeln.“

29. August 2016 11:32










Hendrik Rost

Schädelbasisbruch

Erinnere dich an das, was an
dich erinnert, das Gefühl von
Kühlergrill nach deinem ersten

Unfall, die kurze Flugphase,
als die letzte Stufe doch nicht
die letzte war, erinnere dich

an den überlebenden Zwilling,
der sich an dich geklammert hat,
als ging es darum, in einer sehr

großen Welt nicht das Kleinste
zu sein, jede Art von Gefühligkeit
wars, die du wie Zungenbrecher

jahrelang nicht übers Herz gebracht
hast, hier spricht endlich es dir, in
Symptomen und Launen, sich aus,

wie weit es ist von Glück zum Glück,
und dann fangen die Ereignisse an
vor Übermut wie Nasen zu bluten.

23. Juli 2016 20:21










Hendrik Rost

Die Luft entweicht

Das Halbfinale der EM sehe ich mir allein an, die Kinder schlafen ermattet nebenan, ihre Mutter liegt fiebernd ebenfalls im Bett, Kimmich steht ganz weit außen und ich spüre meinen Herzschlag im Hals, auch ein Kratzen im Rachen, Salbeitee. Den Tag über hat es nicht geregnet, um heute wieder zu schütten. Mir fehlt noch Teil VI der Sonette aus der Reihe „Fahrradcharismatiker“, mit denen ich die Eindrücke aus drei strammen Jahren des Fahrradpendelns in Hamburg verarbeite. Da, wieder eine sehenswerte Ballstafette. Ich bleibe zuhause und kümmere mich. Ein Tag im Home Office, merke ich, ist wie eine Woche im Büro: Kinder zur Schule begleiten, einkaufen, kochen, arbeiten, Kleinkind trösten, arbeiten, Kleinkind füttern, Kimmich auf Özil, Kinder von der Schule holen, Fragen beantworten (wenn findest du besser, Matthäus oder Messi?), essen, arbeiten, sich reinsteigern wegen Schweinsteiger, Dateien retten, die Kleinkind mit einem Patschen auf die Tastatur in den Orbit gejagt hat, Teil VI planen im Hinterkopf („dies sind keine Klagen, sondern das Glück, in der Ewigkeit nur eine kurze Strecke ableisten zu müssen“) … Irgendwann halte ich es nicht mehr aus, stelle den Fernseher auf leise und bereite Frikadellen in der Küche für den nächsten Tag. Sie simmern herrlich im heißen Fett, plötzlich steht es still und leise 0:2 und mir fällt ein, dass Teil VI aus jeweils zwei Zeilen der ersten Teile bestehen wird plus zwei zusätzlichen Zeilen, dem schließenden Couplet. Kleinkind stolpert, Boateng patzt. Mit dem Ausscheiden der Mannschaft sind die Halsschmerzen verschwunden. Ach übrigens, wer nicht findet, dass es vermessen ist, immer nur auf Leistung und Größe zu schielen, der leiste sich was und werde groß. Kinder wachen auf, das Fieber sinkt. Und dann fängt die Arbeit wieder, endlich an.

8. Juli 2016 19:50










Hendrik Rost

Selfies von anderen

Beim neuerlichen Lesen in der über Jahrzehnte gewachsenen Mappe mit Gedichten aus Tageszeitungen komme ich mir vor, als blätterte ich durch ein Familienalbum: Das da, das ist doch der über drei Ecken verbandelte Schwippschwager von dem dort. Dies ist der Onkel mit dem religiösen Eifer und jener dort hört erst mit dem Stottern auf, wenn er anfängt zu singen. Mutter, Tante, Schwestern haben jeden Tag mit ihren Rollen jongliert, bis uns die Gesichtszüge entgleist sind vor Bewunderung und ganz neue Wege gegangen sind …

14. Juni 2016 14:49










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