Sylvia Geist

Die unsterbliche Taube

Die heute auf der Ulica Poselska hat ihren Kopf
ans Pflaster gelehnt wie an die Brust eines Kindes.
Ihr halbgeschlossenes Auge kennt mich, die Linie
ihres Flügels, ein flüssiger Schriftzug, sagt: Es gibt
keinen Frieden, und nichts geht mit dir zu Ende.

Stimmt, Pusteblume mit der Potenz einer Streubombe
jeder, so rutschen wir durch die Ritze Leben
der Welt aus dem Rachen, ihr unsterblich
übles Gerücht. (Apropos, ob Jack the Dripper Pollock
während seiner blauesten Periode in Peggys Kamin

pinkelte, ist fraglich, als unbestreitbar gilt jedoch,
dass die CIA seine freie Art zu schätzen wusste.)
Wir sind überraschend wie im Rankenspiel
einer Gardine die Blätter und bedeutend
wie die Amplitude eines gesunden Diktatorherzens

oder dieses Kleine, das blindlings auf die Taube tritt.
Freilich, solche wie sie bekleckern Hüte, Fahnen
und Markisen, es gibt sie als Button, Aufkleber,
Souvenir. Nichts zu wollen ist auch keine Lösung,
sagen manche, andere nennen es Erfolgsgeschichte.

6. August 2015 16:31










Sylvia Geist

Die Liebe in Zeiten des Aberglaubens

Die blaue Schüssel
voller Licht. Riesige Zerbrechlichkeit.
Welcher Atlas hält das fest?

Auf der Nachtseite der Kugel funkeln
die Waffen des vierzehnten Jahrhunderts.
Verzierte Messer, frühe Gewehre, und in unserem
Museum ruhen Artemis‘ Hunde noch auf dem Leib
einer Armbrust. Gib auf, sagen die Instrumente,
die Narben ihrer Intarsien: Wir wurden geliebt.

Helle Verzweifachung und
Frühling. Vollgesogen mit Bläue
schreit der Whiskey-Jack auf der Stromleitung
gegen den singenden Müllwagen an,
die Plastiktasche, Baumschmuck seit dem Herbst,
geht auf im Wind, eine Blüte so durchsichtig
wie der verschüttete Frühstückskaffee. Wahrer Jihad,
so der Vater eines toten Attentäters auf CTV,
das ist die liebende Sorge für die Familie.

Bete und geh auf
den Markt, einkaufen für ein Lieblingsgericht
in ayurvedischem Vermilion: carrots, pumpkin, pepper
in der Farbe der Sonne überm Morgenverkehr stadteinwärts.
Über Richmond glitzert die Luftbuswolke. Reines biscuit,
blaues china. In den Alpen sammelt man sich
nach der Rettung eines Flugschreibers. Denk daran, überall

lassen sich die Algorithmen deiner Fragen entschlüsseln.
Wisch die Rorschachflecken vom Zettel, lösch die Liste,
bete im Rythmus von Algen. Auf Miso. Und vergiss nicht
die Kokosmilch, den Curry aus Bombay! Jihad ist das
Lieblingsgericht. Die Kassenschlange im Marktparadies.
Küsse auf die goldenen Zehen eines Take-away-Buddhas
beim massenhaften Entern der Hochbahn.

Gib nicht auf. Dieses Seelending ist ein Kugelfisch
reinsten Wassers, voller Gift und Köstlichkeit.
Mach es richtig. Umarme die Schüssel,
full of gifts, mit dem, was du träumst,
in Wirklichkeit. Heavens of china.

Schneide den Kürbis, die Karotten, den Fisch
mit Liebe, poliere den Tafelaufsatz. Geh auf die Knie
um dieses Fußbodens willen. Bitte
für den Seelenfrieden der Piloten.

30. März 2015 02:32










Sylvia Geist

Golems in Weißensee

Wenn er ihr seine Handschuhe reicht im geweißelten Raum
der Anlage, ist es das Ritual vor einer Notoperation,
Vorbereitung einer Arbeit zur Erforschung der Lage:

Steine, Spätwintersonne, die kurze Selbstvergessenheit
der zwei. Sie könnten ein Paar sein, das sich auf der Suche
nach Verwandtschaft verlaufen hat, stundenlang

an einer Mauer entlang im Kreis wieder und wieder
Hoffnung schöpft, bis eines von ihnen eine Stelle erkennt,
ein im Efeu gekentertes Grab, einen Giebel jenseits der Mauer,

ein Tor, hoch wie zwei Männer mit Speeren gegen die
Erinnerungen der Toten, die Geister der Lebenden.
Er hat Ideen, Tickets für Reisen in Zeiten nach oder neben ihnen.

Sie denkt an eine Leiter. Einmal klettert er hinüber, verschwindet
auf der anderen Seite der Straße, während sie wartet,
seine Handschuhe in den Händen, und als er zurückkommt,

hat er für sie nichts Besseres als ihre Verwunderung. Ein Passant
hört sie und ruft die Polizei, doch die findet den Weg nicht.
Wir werden noch, scherzen sie, bei diesen Knochen enden.

Oder es ist in der Mitte – aber da irren sie schon, ernsthaft,
als wären sie mehr als Lehm auf Füßen, ins rauschende Herz
des Geländes, vom Dunkel gefasst wie die Lampe am Eingang.

9. März 2015 17:51










Sylvia Geist

Fehe

Eine Katze sprang von einem Balkon
im 10. Stock und blieb unten lange liegen.
Bis sie aufstand, um länger zu leben,
mit einem besseren Höhenruder und nie
schlummerndem Appetit. Die Geschichte
kennt wahrscheinlich jeder, ich hörte sie
vor Jahren in einem Berliner Randbezirk.

Hier draußen jagen sie einen Fuchs.
Seit Wochen sind die Ställe verrammelt,
die Höfe gepflastert mit Fangeisen, jetzt
hofft alles auf die neuen Forstbeamten.
Dabei erkennt man es an der kahlen Stelle
an seinem Lauf, am tänzelnden Hinken.

Zurückgekehrt wie diese Katze ist er
wendiger als Laub, sonst fast so wie
zuvor. Nur nachts benutzt er Hände
wie meine, sein Lachen weht übers Feld,
bis es hell wird und er sich einrollt
in dem Gedankenbau, dessen Architektin
ich bin. Und immer fehlt wo ein Huhn.

23. Februar 2015 12:20










Sylvia Geist

Kleine Komparation für Gras

Ich liebe den Essigbaum, der unter falschem Namen lebt,
den Trughirsch ohne Tränengruben und Besinnung.

Gras liebe ich tief genug für seinen Karpfen, im Maul
des Teichs die Weide, die liedlosen Pfauenaugen

Tag und Nacht. Die Zusammenhänge, die vor meinen
ein Wäldchen um sich schließt, habe ich zu lieben

beschlossen, den Feuerleiter, das mächtige Gras,
betaubt und alle seine Komparsen wie jedermann

einzeln und unvergleichlich. Zu sagen, ich liebte
niemand mehr, liebe ich mehr wie den ohnmächtigen Hirsch.

für Whoondah Deewhe

27. Januar 2015 16:15










Sylvia Geist

Feuerlager

Oktober, wir lachten noch draußen
über die Fallen, die aus Komposita
jedes Kind basteln kann, als ihr
Zeppelin im Windlicht landete.

Die kenne ich, sagte ich, gestern
tauschte sie ihren Platz im Nest
gegen einen auf dem lauen Mond
über der Haustür, so vermisste sie

den Sommer, jetzt ist sie Urne
eines hochkalorischen Kicks
oder Wärmewabe, je nachdem,
was du vorziehst. Das Flämmchen

knisterte, roch nach Lagerfeuer,
wir sahen, etwas blieb liegen
von der Pilotin im Feuerlager,
das schien wie eine Laterne

aus unbeeindrucktem Papier,
und was am Ende zu stehen hatte,
die Hornisse, ging und ging lange
auf im Rauch des Flugapparats.

9. Dezember 2014 12:00










Sylvia Geist

Weißes Wasser

    (Juli 2012)

„(…) durch den Wald wie durch einen Tunnel. Die Landschaft verbirgt sich hinter der Landschaft. Unter den Wolken scheinen die Berge schwarz und kahl. Nur wo man den Tunnel verlässt und der Baumvorhang längs des Highway aufreißt, sieht man für ein paar Sekunden, dass es der Wald selbst ist, der steinern wirkt durch den dichten Bestand. Steinerner Wald: So hart muss hier ein Aufstieg sein.

(…)

Das Weiße Wasser versteht sich mit dem steinernen Wald.
Weiß ist das Wasser, das sich in lauten Schnellen ergießt, weiß wie der Schnee, der noch liegt, wie auch der verschwundene Schnee, der den Bergwald verwüstet zurücklässt, weil der Boden vom Schmelzwasser weggewaschen wird, jener Schnee, der, ist er erst vollständig zur Vergangenheit übergelaufen, den Wald zu einem steinernen gemacht haben wird, zu einem Stellvertreterwald aus denselben Felsen, auf denen der frühere wuchs.“

    (August 2011)
20. November 2014 10:54










Sylvia Geist

Ein paar Anlässe eines ungeschriebenen Gedichts

Die Schlange vor der Zollstation, wo nichts
sich bewegt außer mir oder dem Dachschatten.

Die Formalitäten der fliegenden
Gesundheitspolizei um einen rotbraunen Rock.

Der Gestank an der Tankstelle,
wo wir um den Toilettenschlüssel anstehen.

Die Passantin, die hineinstürzt, als der Boulevard
sich über einer weiteren Etage der Stadt auftut.

Das Haus, in dem der Gastgeber aufwuchs
mit neun Geschwistern und der Mutter,

die beim Maischen sang und die Angehörigen
unserer Lebensbesichtigungsanstalt höflich übersieht.

Der Applaus der Kinder im Daycare, als wir
Gaben betrachten, die Gott ihnen geschenkt hat.

Der Wunsch, etwas zu kaufen. Der Vorsatz,
wenigstens alle Werbeschilder zu lesen, z.B.

White powder for whiter results. Der Gestank
im Bus, während wir uns schneller verwandeln.

Der Moment, als ich sehe, es ergeht mir
wie den anderen. Die Erleichterung

beim Halt am Fastfoodlokal. Die Schlange,
die in den Armen des Köcherbaums schläft.

Der Versuch, wach zu bleiben. Der Sand, der
beruhigende Ton des rotbraunen Sandes.

24. August 2014 21:37










Sylvia Geist

Zeitgeist

Die Gegenwart hält drei Sekunden, etwa so lang
wie im Rückblick der ganze Tag war für die Frau,
die auf ihrem Fensterbrett wohnt – nur gerade jetzt die
Monotonie ist ewig. Nebenbei, es gibt neuerdings

Berichte aus diesem Drüben, ein mäßiger Chirurg
kann dich hinbringen, und wieder zurück. Betäubt
mit einem Nadelstich einen Punkt in deinem Hirn,
und was durch den Sinn ging, steht wie ein Ball ohne

Schwerkraft, gegen den Ego, dein pawlowscher Hund,
vergebens anspringt. Oder er ist es, der steht, Kiefer
verrostet, in seinem Erlebnishungerkäfig. Das Bewusstsein
da ist ein leerer Stuhl, der an der Schädeldecke hängt,

allem über. Unsinkbarer Staub, Tissue, Schnee,
genug um dir ein Bild zu machen, aber du kannst nicht
darauf kommen. Ja, wo du nicht bemerkst, dass die letzte
Sekunde verstreicht, bleibst du immer drinnen, vielleicht

hast du was mitgenommen, eine Stimme, ein Geräusch,
als zwitscherten Sterne. Alles, um dich zu erinnern,
doch es beginnt nicht, keine Musik ohne Zeit – “viel, um
spät anzufangen und dann zu platzen!” -, Tinnitus ein- ein-

einer Silbe, jede Hoffnung will fahren, bloß wann. Wann
wirst du so schnell, die Trägheit deines Gedankenblitzes
mitzukriegen. Vergiss die Hölle aus Aspik, den jüngsten Abfall
der Schmerzforschung. Wie ein Dopaminjunky flattert

die Jahreszeit vorbei an einem Sonntag im Rigor? Das
bist du, in stroboskopischer Bewegung. Weg vom Fenster,
und nimm die Treppen langsam. Die Seele blitzt aus grauem
Fleisch, das ist krumm wie die Erde und nicht zu leicht.

7. August 2014 09:40










Sylvia Geist

Charl-Pierre Naudé

Der weißeste Strand

Man kann sehen, wie der Fluss
mit der Zeit den Kurs geändert hat;
die Trennlinie zwischen hier und da.

Das Ufer, an dem ich gerade stehe,
war sonst immer die andere Seite.
Und in die beiden Gegenrichtungen gestreckt,
ist alles, was du siehst, makellosester Strand.

Nicht weit von hier auf offener See
schmetterte so um Fünfzehnhundert herum
ein Sturm Bartholomeu Dias‘
kleine kristallene Karavelle,
(völlig durchschaubar bis auf den heutigen Tag),
gegen widrige Klippen.
Das Schicksal übergab das klirrende
Seewägelchen mit seiner Takelung, gewirkten,
an Kreuze genagelten Zierdeckchen,
dem Grund des Ozeans.
Das Wasser heulte wie Wölfe,
die durch die Tülle einer Teekanne geschüttet werden.

Das “Hier-Sein” und das “Da-Sein” …
Die Strandlopers* sind längst darauf gestoßen.

Und späterhin, welcher Abschnitt unserer Küste
entging diesen Teilungen?
Hier: “Nur Weiße”. Da drüben, verbannt (irgendwo): “Nicht-Weiße”.
Die allerersten Linien wurden an den Stränden gezogen:
Auf einer Seite Kolonistenbanden, zusammengeschweißt in einer Art
Club wie in einer Tüte, aus der Pulverfürze knallten;
und auf der anderen Seite die Versenkten,
die menschlichen Wachteln, die: wandernder Sand.

Scherben einer Kanne.
Komplotte der Väter. Vielgeliebte
Ferien am Strand. Der anderen.

Dabei ist doch ganz klar,
wie die Ufer die Plätze tauschten.

Jahrelang dachte ich immer wieder zurück
an einen schmerzlichen Vorfall zwischen mir und meinem Vater
– der inzwischen, wie man so sagt, “hinüber gegangen” ist -,
mit Groll, sogar Hass;
voller Selbstgerechtigkeit.
Eines schönen Morgens aber wachte ich auf
und versuchte mich ein letztes Mal
mit Sturheit vollzusaugen.
Vergeblich.
Was stattdessen übrigblieb,
war Sanftmut, die Nieselregensanftmut
ersten Begreifens.
Und das
durchtränkte alles.

Genau dann entdeckst du dich
auf der anderen Seite;
während du schon immer auf dieser Seite warst.
So wie die Toten,
geblendet
vom endlosen, nahtlosen, makellosesten Strand.

Vielleicht ist es dies,
was man Vergebung nennt.

*

* Die Bezeichnung bezieht sich auf die Khoisan, die zur Zeit der ersten Kolonisten am Kap eine der wichtigsten Bevölkerungsgruppen in Südwestafrika darstellten. (Anm. d. Ü.)

21. Juli 2014 22:26










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